Bericht zur Frühjahrstagung vom 19. bis 20. April 2013 in Görlitz

von Dr. Arnold Klaffenböck, Salzburg

Die Oberlausitzische Gesellschaft der Wissenschaften (OLGdW) lud am 19. und 20. April ihre Mitglieder zur diesjährigen Frühjahrstagung mit anschließender Mitgliederversammlung nach Görlitz ein. Die Veranstaltung, die im Johannes-Wüsten-Saal des Kulturhistorischen Museums abgehalten wurde, hatte erfreulich viele Interessierte in das traditionsreiche Haus in der Neißstraße gelockt. Neben dem abwechslungsreichen Programm dürfte auch die anstehende Neuwahl des Präsidiums in der Mitgliederversammlung für den regen Zuspruch ausschlaggebend gewesen sein.

Am Freitagabend galt es zunächst, einen freudigen Anlass zu begehen. Nach umfassender Sanierung konnte die Oberlausitzische Bibliothek der Wissenschaften (OLB) wieder ihrer Bestimmung übergeben werden. Zu Ehren des langjährigen Sekretärs der OLGdW, des Görlitzer Ratsarchivars und Stadthistorikers Richard Jecht (1858-1945), wurde das stark erweiterte und für den modernen Nutzungsbetrieb umfassend adaptierte Bibliotheksgebäude in "Richard-Jecht-Haus" umbenannt. Beim rückwärtigen Eingang des Komplexes am Haus Handwerk 2 weist nunmehr eine Tafel auf den Namenspatron hin. Der feierlichen Eröffnung wohnten übrigens auch elf Mitglieder der Familie Jechts bei, darunter drei von vier noch lebenden Enkelkindern, die ihren Großvater noch persönlich kennenlernen durften. Einer von ihnen, Ekkehard Jecht, sprach im Namen der Familie zu den versammelten Gästen. Die berührenden Erinnerungen und Anekdoten ließen den Menschen und Privatmann Richard Jecht spürbar werden, der in der Öffentlichkeit so bisher kaum bekannt gewesen dürfte.

Nach den Grußworten von Dr. Steffen Menzel, dem Präsidenten der OLGdW, und Siegfried Deinege, Oberbürgermeister der Stadt Görlitz, skizzierte Matthias Wenzel als Leiter der OLB die 650-jährige Geschichte der Bibliothek. Der Vortrag spannte einen Bogen von der Schenkung der so genannten Milichschen Bibliothek, die der Schweidnitzer Jurist Johann Gottlieb Milich im Jahre 1726 der Stadt Görlitz testamentarisch vermachte, über die bibliophile Sammlungstätigkeit der 1779 gegründeten OLGdW bis hin zur Gründung der OLB im Zusammenhang mit der Unterbringung des städtischen Museums im vormaligen Gesellschaftshaus der OLGdW nach 1945. Dass deren Entwicklung leider nicht immer gedeihlich verlief, wurde mehr als deutlich. So rief M. Wenzel in Erinnerung, dass die Buchbestände durch Auslagerungsverluste während des Zweiten Weltkrieges empfindlich geschmälert und die Sammlungen selbst zu DDR-Zeiten von Begehrlichkeiten und der Auflösung bedroht gewesen waren. Unter diesen Vorzeichen müsse ihre Bewahrung und die Weiterführung als wissenschaftliche Einrichtung als besonderer Glücksfall betrachtet werden. Heute gelte die OLB mit rund 140.000 Bänden als wichtigste regionale Bibliothek zwischen Dresden und Breslau/Wrocław. Im Anschluss wurden die Besucher zu einem Empfang im Arkadenhof des Barockhauses gebeten und konnten die Räumlichkeiten des neuen Benutzerbereiches selbst in Augenschein nehmen. In Gestalt einer Porträtbüste, die hier in einer Nische platziert wurde, ist Richard Jecht in "seinem" Haus gegenwärtig. Die Übergabe der Plastik erfolgte durch Ekkehard Jecht an Matthias Wenzel zum Dank dafür, dass die Bibliothek das Vermächtnis bzw. Ansehen Richard Jechts in Ehren halte.

Bild 1: Preisverleihung zum Hermann-Knothe-Preis; Bild 2: Preisverleihung zum Jacob-Böhme-Preis; Bild 3: Unterzeichnung der Vereinbarung zwischen der OLGdW und der Stadt Görlitz

Das Programm des Samstagvormittages bestimmten zwei Preisverleihungen und mehrere Vorträge. Bereits zum vierten Mal konnte die OLGdW den Hermann-Knothe-Preis verleihen, der zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses ins Leben gerufen worden war. Nach Kai Wenzel, Markus Lammert und Martin Brützke wurde die Auszeichnung diesmal Jan Bergmann (Dresden) zuerkannt. Für preiswürdig befunden hatte die Jury J. Bergmanns Abhandlung zu Joachim Sigismund von Ziegler und Klipphausen (1660-1734) und der Errichtung des evangelischen weltadeligen Fräuleinstifts Joachimstein bei Radmeritz/Radomierzyce zwischen 1712/13 und 1728. Die Einrichtung diente der Aufnahme und Versorgung lediger adeliger Frauen und erfüllte die sozial-karitativen Absichten des Gründers bis zur Auflösung unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Architektonisch zählt die Anlage bis heute zu den wichtigsten Zeugnissen des sächsischen Barock. In seinem Referat zeichnete J. Bergmann nicht nur die eigenwillige Motivation des kinderlos gebliebenen Bauherrn für diese Stiftung, nach, wo erbrechtliche Gründe eine maßgebliche Rolle gespielt haben dürften, sondern wies auch auf die sorgfältige Planung und die umsichtigen Vorbereitungen des Auftraggebers hin, der zuvor ähnliche Anstalten besucht hatte. Der Vortrag machte deutlich, dass Joachimstein mehrere Anliegen in sich vereint, nämlich adelige Repräsentation und Selbstdarstellung sowie Wohltätigkeit und Uneigennützigkeit. J. Bergmanns Aufsatz soll in der nächsten Ausgabe des "Neuen Lausitzischen Magazins" publiziert werden.

Zum ersten Mal vergeben wurde dagegen der gleichfalls als Förderungspreis initiierte Jacob-Böhme-Preis, den das Internationale Jacob-Böhme-Institut Görlitz e. V. und die OLGdW gemeinsam ausschreiben. Von den drei Bewerbern setzte sich die italienische Philosophin Cecilia Muratori (München) durch, die u. a. als Übersetzerin von Böhmes Hauptwerk "Aurora oder Morgenröte im Aufgang" ins Italienische Verdienste erlangt hat. In der prämierten Arbeit beschäftigte sich C. Muratori mit dem Verhältnis zwischen Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) und Jacob Böhme (1575-1624). Anhand von Hegels Kommentaren und Ausführungen insbesondere zu Böhmes Sprache zeigte sie auf, welches Verständnis Ersterer für den ersten deutschen Philosophen hatte und welche Bedeutung Hegel seinem Vorgänger beimaß. Die Preisverleihung nahmen der Präsident der OLGdW, Dr. Steffen Menzel, der Vorsitzende des Internationalen Jacob Böhme-Instituts, Herr Dr. Thomas Regehly, sowie als Vertreter der Stifter der Oberbürgermeister der Stadt Görlitz Siegfried Deinege vor. Zuvor war es zu einer denkwürdigen Vereinbarung zwischen der OLGdW und der Stadt Görlitz gekommen, die die künftige Nutzung der historischen Sammlungen der OLGdW durch die heutigen Gesellschaftsmitglieder regelt.

Die zweite Hälfte des Samstagvormittages war den Vorträgen von Mitgliedern unserer Gesellschaft vorbehalten. Dr. Christian Speer (Halle/Saale) stellte das Forschungsprojekt "Index Librorum Civitatum". Verzeichnis der Stadtbücher des Mittelalters und der frühen Neuzeit" vor, das an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg angesiedelt ist und seit 1. April 2011 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) unterstützt wird. Ab dem 13. Jahrhundert wurden Stadtbücher als Kodizes von den städtischen Beamten aus Verwaltungsgründen geführt und enthielten rechtlich verbindliche Anordnungen. Sie bilden ein wichtiges Instrument historischer Grundlagenforschung, erlauben sie doch aufschlussreiche Einblicke in das urbane Leben während des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Bereits zu DDR-Zeiten hatte die wissenschaftliche Erfassung der Stadtbücher begonnen, war später aber zum Erliegen gekommen. Das Index-Projekt knüpfe daran an und verfolge das Ziel, mögliche alle Stadtbücher auf dem Gebiet der neuen Bundesländer nachzuweisen und zu dokumentieren. Gegenwärtig verzeichne die Datenbank Stadtbücher für 446 Städte einschließlich Bestandsaufnahme. Mittels Grafiken wies C. Speer auf das Gefälle in der Verteilung von Stadtbüchern innerhalb des Untersuchungsgebietes hin: Während Sachsen die höchste Dichte zeige, gefolgt von Sachsen-Anhalt und Thüringen, sinke sie in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern deutlich, am niedrigsten falle sie in Berlin aus. Welch unterschiedliches Aussehen die Stadtbücher hinsichtlich Einbandgestaltung, materieller Ausstattung und Stärke des jeweiligen Bandes haben können, veranschaulichte C. Speer durch Abbildungen heimischer Beispiele, darunter einige eindrucksvolle aus dem Kamenzer Ratsarchiv. (Weiterführende Informationen zum Index-Projekt finden sich im Internet unter www.stadtbuecher.de)

Daran anschließend folgte ein Vortrag Tino Frödes (Olbersdorf) über die Mitgliederentwicklung in der OLGdW seit ihrer Gründung bis zur vorläufigen Auflösung im Mai 1945. Da der Referent krankheitshalber nicht anwesend sein konnte, wurde der Vortrag von Dr. Steffen Menzel verlesen. Zum ersten Mal, so T. Fröde, sei von ihm der Versuch unternommen worden, durch systematische Auswertung von Unterlagen aus dem erhaltenen Archiv der Gesellschaft, darunter Mitgliederverzeichnissen und Karteizetteln, statistische Aussagen über Mitgliederzahlen, Altersdurchschnitt, Dauer der Mitgliedschaft sowie das beruflich-akademische Umfeld dieser Personen zu gewinnen. Für den genannten Zeitraum seien insgesamt 2091 Mitglieder eruiert worden, wobei Phasen starker Zuwächse - etwa nach den napoleonischen Kriegen bis in die 1840er-Jahre oder später zur Jahrhundertwende bzw. nach dem Ersten Weltkrieg - mit Abschnitten der Stagnation und des Rückganges wechselten. Bei anfänglich 49 Mitgliedern im Gründungsjahr erreichte die Zahl 1924 mit 278 ihren Höchststand, um bei der Liquidierung der OLGdW ca. 138 zu betragen. Beruflich gehörten sie überwiegend den gebildeten Schichten an, insbesondere Lehrer und Geistliche, aber auch Vertreter aus dem Verwaltungs- und Rechtswesen seien ihr beigetreten. Unter den Mitgliedern aus Adelskreisen konnte T. Fröde vornehmlich die Familien von Gersdorff, von Wiedebach-Nostitz und von Salza nachweisen. Abgerundet wurde der Überblick mit exemplarisch herausgegriffenen Kurzbiografien zu einigen bemerkenswerten Persönlichkeiten und Gelehrten, die zugleich das weite Betätigungsfeld und die vielfältigen Interessengebiete der Genannten erahnen ließen, wie Joseph Freiherr von Hammer-Purgstall (1777-1856), Präsident der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien, Ernst Gütschow (1869-1946) als Generaldirektor der Dresdner Zigarettenfabrik Jasmatzi und Besitzer von Burg Tzschocha/Czocha oder der Berliner Verleger Alfred Richard Meyer (1882-1956).

Unter dem Titel "Willkürliche Kategorien oder wissenschaftliche Systematik" würdigte Uwe Hornig (Oppach) zum 100. Geburtstag von Willi Hennig (1913-1976) die wissenschaftliche Tätigkeit dieses aus der Oberlausitz stammenden Biologen und Insektenforschers. Als Spezialist für Zweiflügler erwarb er Verdienste als Mitarbeiter am Deutschen Entomologischen Institut in Berlin-Friedrichshagen sowie als Bediensteter des Staatlichen Museums für Naturkunde in Stuttgart. Mit seinem 1950 erschienen Buch „Grundzüge einer Theorie der phylogenetischen Systematik“ revolutionierte er die Systematik in der Biologie und kann in eine Reihe mit Carl von Linné gestellt werden. U. Hornig berichtete auch von den inzwischen erfolgreichen Bemühungen der Gemeinde Oppach, die dortige Grundschule nach Willi Hennig zu benennen, um die Erinnerung an diesen Naturwissenschaftler in seiner Heimat aufrechtzuerhalten.

Zuletzt präsentierte Dr. Lars-Arne Dannenberg (Königsbrück) die von ihm edierten "Annalen der Stadt Kamenz" des Caspar Haberkorn, die als nunmehr schon siebter Band der wiederbegründeten Reihe "Scriptores rerum Lusaticarum" vorgelegt werden konnten. Das gemeinhin als "Haberkornsche Chronik" bekannte Geschichtswerk stellt für Kamenz das wohl wichtigste Zeugnis zur Stadtgeschichte im Mittelalter und der Frühen Neuzeit dar. Beginnend mit der Gründung von Kamenz im Jahre 1200 setzte sich der Schulrektor und Ratsherr Caspar Haberkorn (ca. 1550-1618) Neujahr 1589 an die Aufzeichnungen, die er bis 1593 vornimmt, ehe sie abrupt abbrechen. Um einen Eindruck von der Diktion, vor allem jedoch der Vielfalt des thematischen Spektrums zu geben, trug L.-A. Dannenberg besonders aussagekräftige Passagen aus der Chronik vor. Berichte von Ehebruch und Unkeuschheit, die vor Gericht kamen und auf dem Schafott endeten, aber auch von kurios-tragischen Unglücksfällen, wie dem tödlichen Sturz vom morschen Blumenbrett am Fenster, gewähren Einblicke in damals herrschende Sitten und Moralvorstellungen sowie das alltägliche Leben einer Kleinstadt.

Am Nachmittag fand traditionell die Mitgliederversammlung, mit dem Rechenschaftsbericht statt. Da nach vier Jahren Amtszeit turnusgemäß die Wahl eines neuen Präsidiums anstand, war ein Bericht über die geleistete Arbeit angebracht. Es war eine äußert erfolgreiche Amtszeit. Vieles wurde auf den Weg gebracht: u. a. eine neue Homepage erstellt, die beständig aktualisiert und erweitert wird und von den Aktivitäten der Gesellschaft berichtet. Es wurden spannende und außerordentlich gut besuchte Tagungen organisiert; zahlreiche Publikationen wurden vorgelegt und sogar die Reihe "Scriptores rerum Lusaticarum" konnte mit mittlerweile zwei Bänden wiederbelebt werden. So wurden Dr. Steffen Menzel als Präsident, Dr. Lars-Arne Dannenberg als Vizepräsident, Matthias Wenzel als Sekretär wiedergewählt. Da Tino Fröde nicht zur Wiederwahl antrat, wurde Dr.-Ing. Volker Dähn zum neuen Schatzmeister gewählt. Für die drei ausstehenden Beisitzerposten hatten mit Prof. Winfried Müller, Dr. Uwe Koch, Dr. Christian Speer sowie Kai Wenzel vier Anwärter kandidiert, wodurch eine geheime Wahl notwendig wurde. Gewählt wurden schließlich Prof. Winfried Müller mit 48 Stimmen, Dr. Uwe Koch mit 49 Stimmen, Kai Wenzel mit 50 Stimmen, während Dr. Christian Speer 14 Stimmen erhielt.