Bericht zur Frühjahrstagung am 29./30. April 2022 in Görlitz

von Ivonne Makowski, Kai Wenzel

Nach einem pandemiebedingten zweijährigen Aussetzen fand endlich wieder die traditionelle Frühjahrstagung im ausgefüllten Johannes-Wüsten-Saal des Stammhauses in der Neißstraße statt.

Auftakt der Tagung waren am Freitagabend zwei Programmpunkte. Zunächst stellten Frau Prof. Dr. Lenka Bobková (Prag) und Herr Mgr. Tomaš Velička (Aussig/Ústí nad Labem) das Buch „Johann von Görlitz. Der dritte Sohn Kaiser Karls IV.“ vor. Es ist die erste wissenschaftliche Monografie über Johann und sein Herzogtum Görlitz. Das Buch erschien zunächst 2016 in tschechischer Sprache. Die Herausgabe der deutschen Fassung organisierte die Oberlausitzische Gesellschaft der Wissenschaften in Kooperation mit dem Institut für tschechische Landesgeschichte der Karlsuniversität Prag. Sie wurde finanziell vom Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds sowie von der Stiftung der Sparkasse Oberlausitz-Niederschlesien unterstützt und erschien 2020 als Band 22 der Beihefte des Neuen Lausitzischen Magazins im Verlag Gunter Oettel. Da die Corona-Pandemie bisher eine Präsentation des Buches verhindert hatte, wurde diese nun nachgeholt.

Im zweiten Teil des Abendprogramms sprach Prof. Dr. Christian Andree (Kiel) über die Rezeptionsgeschichte der Werke Theodor Fontanes. Als einer der besten Kenner der Schriften des bekannten Berliner Autors gab Andree einen profunden und gleichsam unterhaltsamen Überblick über die Wahrnehmung Fontanes zu Lebzeiten und darüber hinaus. Im Anschluss berichtete Andree auch über seinen eigenen Lebensweg, vor allem über seine Kindheit und Jugend in Niesky. Dort besuchte er in den 1950er Jahren die Erweiterte Oberschule, auf der er auch erstmals mit den Werken Fontanes in Berührung kam.

Zu Beginn des Tagungssonnabends betonte der Vizepräsident der OLGdW, Dr. Lars-Arne Dannenberg, in Vertretung für den erkrankten Präsidenten Dr. Steffen Menzel in seinen einleitenden Grußworten vor allem die Freude über das nun endlich wieder gemeinsam mögliche Tagen und Diskutieren. Mit der Laudatio auf den nunmehr 10. Träger des Hermann-Knothe-Preises, Jan Michael Goldberg, leitete der Vizepräsident zum Festvortrag des Preisträgers über.

Aus mehreren eingereichten Arbeiten überzeugte die demografische Studie auf Mikroebene mit dem Vortragstitel „Der lange Schatten des Prager Friedens. Konfession und Bevölkerungswachstum in der oberlausitzischen-böhmischen Grenzregion von 1600 bis 1900“. Es handelt sich um das Promotionsthema am Lehrstuhl für empirische Makroökonomik an der Universität Halle-Wittenberg und nicht etwa im geschichtswissenschaftlichen Bereich, was verständlich wird, wenn man sich die Quellenbasis Goldbergs vergegenwärtigt. Goldberg untersucht die unterschiedliche Bevölkerungsentwicklung aller Familien namens Goldberg in der Gemeinde Großschönau in der Oberlausitz und der benachbarten Stadt Varnsdorf (Warnsdorf) auf böhmischer Seite. In sehr unterhaltsamer Weise präsentierte er nicht nur die Zahlen zum vergleichsweise doppelten Bevölkerungswachstum in Varnsdorf gegenüber Großschönau über mehrere Jahrhunderte für insgesamt dreizehn untersuchte Familienzweige, sondern trug darüber hinaus amüsant und anregend seine Thesen zu diesem signifikanten Unterschied vor. Zusammenfassend kommt Goldberg zu dem vorläufigen Ergebnis, dass vor allem die konfessionellen Unterschiede in den beiden Ortschaften wohl eine Hauptursache für die demografischen Entwicklungen darstellt. So resümierte er, dass die um 1652 einsetzende Rekatholisierung im Grenzgebiet um Warnsdorf für eine höhere Geburtenrate sorgte im Vergleich zum protestantischen Großschönau. Diese Hypothese über eine konfessionsabhängige Fertilität stieß auf rege Diskussion im Plenum und auch die Frage, welche Entwicklung diesbezüglich die Oberlausitz genommen hätte, sofern sie nicht Kursachsen als Pfandlehen zugeschlagen worden wäre, ließ den langen Schatten des Prager Friedens sichtbar werden.

Lucia Henke (Herrnhut) widmete sich im nächsten Vortrag der Frage „Geschichte neu schreiben? Das Bild mittelalterlicher Herrscher in Handbüchern der DDR-Geschichtswissenschaft am Beispiel von Otto I. und Friedrich I.“ Aufgrund persönlicher Erfahrungen mit einem wahrgenommenen Vermittlungsbruch im Geschichtsunterricht zur Zeit der politischen Wende in Deutschland 1989/1990 untersuchte sie, inwiefern der 1955 von der SED beschlossene Traditionsbruch und die restlose Überwindung des „Alten“ in der DDR-Zeit gelungen ist. Dabei verglich Henke die Geschichtsbilder der römisch-deutschen Kaiser Otto I. (912-973) und Friedrich I. (1122-1190) in den DDR-Handbüchern deutscher Geschichte mit denen im „Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte“ in der damaligen BRD. Der anfangs vermutete Gedanke, das deutsche Mittelalter hätte in der DDR eine Nische für die freie Wissenschaft mangels staatspolitischen Interesses sein können, bewahrheitete sich nicht. Stattdessen konnte Henke eindrücklich zeigen, dass die in den Jahren 1963/1964 neu gefassten Geschichtsbilder dieser beiden Herrscher lediglich auf den vorangetriebenen Feudalisierungsprozess fokussiert waren und sich kaum objektiv mit deren Persönlichkeiten im historischen Kontext auseinandersetzten. So war die offizielle Interpretation des Mittelalters ebenfalls Teil einer radikalen Nationalgeschichte innerhalb des Klassenkampfes. Eine vollständig neue Geschichtsschreibung fand trotz alledem nicht statt; vielmehr entstanden alternative Geschichtsbilder.

Siegfried Hoche (Görlitz) beschloss sodann die erste Sektion mit der Vorstellung seiner Forschungen über die Görlitzer Hallenhäuser und deren baulicher Entwicklung vor allem unter dem Aspekt ihrer Nutzungsgeschichte vom 14./15. Jahrhundert bis heute. Der Ratsarchivar von Görlitz hat hierfür intensive Quellenrecherchen und Auswertung betrieben, so dass unter anderem die Besitzergeschichten dieser Häuser mit ihren biografischen Daten bis in das 14. Jahrhundert hinein nahezu lückenlos angegeben werden können. Nach dem Credo „Raum ist Geld“ begründet Hoche die charakteristische Bauweise der Görlitzer Hallenhäuser, die bereits ab dem 13. Jahrhundert als multifunktionale, mehrstöckige Gebäude mit Lagerräumen für Handelswaren, Tiefkeller für das Brauereiwesen, repräsentative Schankhallen sowie Dachböden für das Getreide errichtet wurden. Nachfolgende Zäsuren überstand diese einzigartige Architektur glücklicherweise ohne nennenswerte Substanzverluste. Vielmehr wurden die Räumlichkeiten an die jeweiligen Bedürfnisse kontinuierlich bis in die Gegenwart im Inneren entsprechend angepasst. Einer früh einsetzenden Erkenntnis zum Schutz der Hallenhäuser im Sinne baulicher Denkmale zu Beginn des 20. Jahrhunderts folgte die großflächige Sanierung nach der politischen Wende bis zum wiederaufgenommenen Welterbeantrag für die Stadt Görlitz, indem die Hallenhäuser einen zentralen Platz einnehmen. Die Veröffentlichung des ersten Bandes zur Geschichte der Görlitzer Hallenhäuser und seinen früheren Besitzern befindet sich in unmittelbarer Vorbereitung.

Nach einer kurzen Pause eröffnete Dr. Markus Bitterlich (Dresden) den zweiten Teil der Frühjahrstagung an diesem Tag. In seinem Vortrag „Die Garnisonskirche auf dem Königstein – Ein bemerkenswertes Baudenkmal mit Verknüpfungen zur Oberlausitzer Geschichte“ lenkte er den Fokus auf die mittelalterlichen Fragmente der Kirche, die auf dem Tafelberg bis heute von einer Zeit zeugen, als der Königstein und die Oberlausitz von dem böhmischen König Wenzel I. (um 1205-1253) beherrscht wurden. So richtete Bitterlich die Aufmerksamkeit vor allem auf die Reste der Chormalereien aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, deren Ikonografie weitestgehend noch ungeklärt ist. Bitterlich, der sich als dortiger Museologe intensiv mit der Geschichte des Königsteins im Mittelalter beschäftigt, stellte hierzu seine These vor, dass es sich bei den figürlichen Darstellungen um Szenen aus der Vita des Heiligen Aegidius handeln könnte. Aegidius wurde als Schutzpatron der Kolonisation, der Adligen und Fürsten verehrt und sowohl in Sachsen als auch in Nordböhmen gab es viele Patrozinien dieses Heiligen. Die Ausführung des Motivs sowie die Verwendung kostbaren Ultramarinblaus für die Wandmalereien bieten dabei erste Anhaltspunkte.

Dr. Sven Brajer (Berlin) schwenkte sodann um in die Neuzeit bzw. Gegenwart und machte in seinem Vortrag über die Konzeption eines neuen Spreequellmuseums in Ebersbach-Neugersdorf und zur Schließung der Humboldtbaude (1912-2019) auf ein dringendes Desiderat im Bereich des heimatkundlichen Museumswesens aufmerksam. Die für die lokale Geschichte wertvollen Exponate hauptsächlich aus den Bereichen Zoologie, Botanik, Ur- und Frühgeschichte sowie Volkskunde wurden seit den letzten 160 Jahren mit Gründung des Humboldtvereins Ebersbach 1861 von ambitionierten Laienforschern wie August Weise (1835-1910) zusammengetragen. Letztgenannter trug eine beachtliche Molluskensammlung mit circa 12.500 Exponaten aus Sachsen und Böhmen zusammen. Brajer hat mit Partnern zwischen 2016 und 2019 an einer Machbarkeitsstudie gearbeitet, um diese Bestände, eingebunden in einem übergeordneten Museumskonzept unter dem Titel „Menschen machen Geschichte“, einem breiten Publikum in der eigens dafür 1912 errichteten, mittlerweile sanierungsbedürftigen Humboldtbaude wieder zugänglich zu machen. Das Gebäude ist inzwischen beräumt, die darin befindlichen Sammlungen in verschiedenen Depots eingelagert, jedoch die Zukunft ist ungewiss. Vor allem für den Sammlungsbestand des ehemaligen Ebersbacher Humboldtvereins steht eine sachgerechte Katalogisierung und Zustandsbewertung aus und sollte dringend nachgeholt werden, so Brajer. Dr. Gabriele Lang, Vorsitzende des Lusatia-Verbands e. V., schaltete sich hier sogleich ein, um erste Unterstützung bei der Suche nach einer Lösung für diese wichtige Aufgabe anzubieten.

Den letzten Vortrag vor der Mittagspause und der internen Mitgliederversammlung am Nachmittag trug Dr. Jens Buhlisch in Vertretung für Prof. Dr. Anton Sterbling (Rothenburg/O.L.) vor, welcher leider an diesem Tag erkrankt war. In dem Vortrag über die „Deportationen der Deutschen aus dem Banat“ berichtet Sterbling, selbst aus dem Banat als Teil der ehemaligen rumänischen Volksrepublik stammend, über die Arbeit zu seinen publizierten Erzählbänden, in denen Zeitzeugen ihre Deportation nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in die Sowjetunion sowie ihr Leben in den dortigen Arbeitslagern aus ihren Kindheitserinnerungen heraus beschreiben. Circa 33.000 Banater Schwaben wurden in der unmittelbaren Nachkriegszeit verschleppt, die Kinder älter als ein Jahr hatten. Für die damaligen Kinder waren es traumatische Erfahrungen, die sich in ihren Erzählungen widerspiegeln. So resümiert Sterbling in eindringlicher Weise, dass sich die dunklen Schatten des sowjetischen Lagersystems bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hineinziehen und dass die transgenerationalen Folgen keinesfalls unterschätzt werden dürfen. Diese bittere Erkenntnis mahnt – besonders vor dem Hintergrund der aktuellen kriegerischen Ereignisse in der Ukraine – den unschätzbaren Wert von Frieden nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.