Bericht zur Frühjahrstagung am 23. und 24. April 2010 in Bautzen

von Dr. Arnold Klaffenböck, Strobl

Am 23. und 24. April 2010 hielt die Oberlausitzische Gesellschaft der Wissenschaften e. V. (OLGdW) ihre diesjährige Frühjahrstagung ausnahmsweise in Bautzen ab, weil das mit der Geschichte der Gesellschaft eng verbundene Barockhaus Neißstraße 30 in Görlitz wegen Sanierungsarbeiten und Vorbereitungen zur 3. Sächsischen Landesausstellung "Via Regia" 2011 nicht zur Verfügung stand. Das Bautzener Friedrich-Schiller-Gymnasium, bereits Veranstaltungsort der erfolgreichen Herbsttagung 2008 zum Archivwesen der Oberlausitz, öffnete daher auch dieses Mal gastfreundlich seine Pforten. Der Einladung zu dieser Veranstaltung, die in Verbindung mit dem Verein für Sächsische Landesgeschichte abgehalten wurde, waren Interessenten und Vortragende aus dem In- und Ausland gefolgt.

In seiner Grußrede warnte Dr. Steffen Menzel, Präsident der OLGdW, eindringlich vor einer weiteren Entwurzelung der Gesellschaft, die sich ihrer kulturellen Herkunft und Vergangenheit nicht mehr bewusst sei und ihre heimatliche Verortung zugunsten von Beliebigkeit und Austauschbarkeit allmählich verliere. Dem entgegenzutreten, sei eine dringende Aufgabe - und würde auch praktiziert, wie diese Tagung zeige. Dr. André Thieme, 2. Vorsitzender des Vereins für Sächsische Landesgeschichte, knüpfte an die Worte seines Vorredners an und skizzierte kurz die verbindenden Traditionen und gemeinsamen Anliegen beider wissenschaftlicher Vereinigungen, die bemüht seien, ihren Gedankenaustausch und ihre Zusammenarbeit zu intensivieren.

Den Reigen der Vorträge durch Mitglieder der OLGdW am Sonnabend eröffnete Christian Speer (Jena), der am Beispiel von Görlitz Überlegungen zur reformationshistorischen Forschung im Hinblick auf die Oberlausitz anstellte. Die Görlitzer Ratsherren hatten reges Interesse an den reformatorischen Ideen und waren ihnen gegenüber aufgeschlossen. Das zeigte sich etwa in der Wahl der Studienorte für die Söhne der Patrizier, die überwiegend nach Wittenberg oder Leipzig, seltener nach Frankfurt an der Oder gingen. Für Görlitz sei festzustellen, dass die Reformation aus den Kreisen der Bürgerschaft kam, es jedoch keine Einflüsse durch die Landbevölkerung gab. Statt sich festzulegen, ob es sich in Görlitz um eine Rats- oder Gemeindereformation gehandelt habe, plädierte Ch. Speer dafür, allgemein von einer "bürgerlichen Reformation" zu sprechen, weil dieser Begriff die Träger der Bewegung über ihren Status als Bürger definiere, folglich Ratsherren und Handwerker/Tuchmacher berücksichtige, ohne eine Gruppe auszuschließen. Ungeachtet der unterschiedlichen politischen Rahmenbedingungen und Verlaufsformen der Reformation bestünden Parallelen zwischen Görlitz und einigen süddeutschen Reichsstädten, was die Ergebnisse und Auswirkungen der Veränderungsprozesse betrifft.

Dr. Andreas Gauger (Berlin) äußerte sich über bestehende Denkstrukturen mit Bezug auf die Oberlausitz. Dabei ging er vom Begriff der Philosophia perennis aus, einer Vorstellung, wonach bestimmte philosophische Einsichten und Erkenntnisse über Zeiten und Kulturepochen hinweg erhalten bleiben, aber jeweils zeitgemäß formuliert werden müssen. Hierzu zählen Aussagen, welche ewige, unveränderliche und universal gültige Wahrheiten über die Wirklichkeit, v.a. den Menschen, die Natur oder den Geist zum Ausdruck bringen. Ihr Ansatz ziele darauf ab, Dogmatismus jeglicher Art zu überwinden, dafür universell zu denken und lokal zu handeln. Dieser Kerngedanke könne auf das System der Wissenschaften übertragen werden, welches zunehmend der Verbreiterung des Spektrums sowie einer Unterwerfung gegenüber Nützlichkeitsaspekten ausgesetzt sei. Um die Zusammenhänge in der Welt zu begreifen, sei es notwendig, sich wieder auf die Ursprünge zu besinnen und das System auf den Grund zurückzuführen. So ließe sich die zunehmende Diskrepanz zwischen Zentrum (Inhalt) und Weg (Methodik) eindämmen.

Anschließend berichtete Kai Wenzel (Görlitz) über die Restaurierung von Objekten, die aus den einstigen Sammlungen der OLGdW stammen. Nach Auflösung der Gesellschaft und Enteignung des Besitzes 1945 waren natur- und kulturkundliche Gegenstände, Möbel und Kunstwerke in städtischen Besitz übergegangen und gehören seither zu den Museumsbeständen. Die Aufnahme des Kulturhistorischen Museums in das sog. "KUR-Programm" der Kulturstiftung des Bundes ermöglichte Konservierungs- und Restaurierungsmaßnahmen an herausragenden Objekten, die das vielfältige Interesse und frühere Wissen der Mitglieder der OLGdW dokumentieren und auf eindrucksvolle Weise Wissenschaftsgeschichte ablesen lassen. Am Herbarium der Oberlausitz oder der Xylothek sei die im 19. Jahrhundert übliche naturwissenschaftliche Systematik zu studieren, die Gesteins- und Mineraliensammlung, die im Kern noch auf die Sammlung des Mitbegründers der OLGdW, Traugott Adolf von Gersdorf, zurückreicht, blieb deutschlandweit als eine der wenigen in der historischen Aufstellung erhalten. Ab 2011 soll die neu konzipierte Dauerausstellung im zweiten Obergeschoss des Kulturhistorischen Museums die Geschichte der OLGdW umfassend darstellen.

Constanze Herrmann (Görlitz) präsentierte neue Forschungen und Entdeckungen aus dem Physikalischen Kabinett des Adolf Traugott von Gersdorff. Die Sammlungsbestände belegen intensive naturwissenschaftliche Forschungen ihres Besitzers, vor allem in den Bereichen Elektrostatik und Optik, Zeitmessung, Meteorologie und Aerostatik. Als Junggeselle hatte er im Schloss Niederrengersdorf eine naturkundliche Sammlung aufgebaut. 1791 begannen Planungen für ein Physikalisches Kabinett im Schloss Meffersdorf, nach dem Tod von Gersdorffs gelangte es nach Görlitz. Ausgehend vom erhaltenen Bestand zog C. Herrmann Rückschlüsse auf den ursprünglichen Bestand. Die ausgewählten Beispiele ließen die mitunter mühsame Spurensuche erahnen, die zum Teil erst über verschlungene Pfade zu entscheidenden Erkenntnissen führte. Durch das Wissen, welche Gerätschaften und welches Zubehör damals für die wissenschaftlichen Versuche erforderlich waren, aber auch unter Auswertung des schriftlichen Nachlasses von Gersdorfs gelang es, Einzelteile zu identifizieren und zuzuordnen (z.B. Sonnenmikroskop, Voltasche Säule).   

Kurt-Michael Beckert (Königslutter) schließlich widmete sich Schöppenbüchern aus dem ehemaligen Kreis Lauban. Sie waren bis zur Einführung der preußischen Gesetzgebung gültig und enthalten Verträge vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. Insbesondere für Dörfer dieser Gegend seien sie oftmals die einzige erhalten gebliebene Primärquelle, wobei 50 Prozent der Schöppenbücher Namensregister aufweisen. Die Eintragungen geben Auskunft über Grundeigentümer und -herrschaften, enthalten Beschreibungen der Objekte und benachbarter Immobilien, nennen Zahlungstermine und Kaufsummen, erwähnen Verpflichtungen gegenüber dem Gutsherr bzw. Pfarrer. Sie führen Rechte, Einkünfte oder Ausgaben an, außerdem gewähren sie Einblick in grundherrschaftliche Besitzerreihen und Sozialverhältnisse sowie wechselnde Zahlungsmittel. Aufgrund ihrer Bedeutung als historisches Quellenmaterial veranlasste die Laubaner Kreisverwaltung 1936 die Zusammenführung aller Schöppenbücher im Landratsamt Lauban, ehe sie ins Hauptstaatsarchiv nach Breslau gelangten. Soweit sie den 2. Weltkrieg und die Wirren der Nachkriegszeit überstanden haben, liegen sie heute großteils im polnischen Lubań. Kleinere Bestände befinden sich weiterhin in Wrocław oder kamen nach Hildesheim, wo sie für die Forschung erschlossen werden. Derzeit könne auf über 200 Schöppenbücher des ehemaligen Kreises Lauban verwiesen werden.

Im fünften Jahr seines Bestehens ist das "Junge Forum" längst ein fest etablierter und unverzichtbarer Bestandteil der Frühjahrstagungen der OLGdW. Aus diesem Anlass durfte Danny Weber (Halle/Leipzig), der noch einmal den Zweck dieser Plattform für Nachwuchswissenschaftler erläuterte, positive Bilanz ziehen, ehe Alexandra Kaar (Wien) das Wort ergriff. Basierend auf Ergebnissen des Forschungsprojektes "Regesta Imperii" am Institut für Mittelalterforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften sprach sie über Kaiser Sigismund von Luxemburg als Landesherrn der Oberlausitz und die Sechsstädte. Im Mittelpunkt ihres Vortrages stand die Überlegung, was der Herrscher von den Sechsstädten erwartete, welche Funktionen sie für ihn innehatten - und umgekehrt. Antworten darauf gaben Urkunden, die Sigismund veranlasste hatte, Befehle und Mandate. Anhand der Landsfriedenspolitik Sigismunds, seiner Kooperation mit den schlesischen Fürstentümern bzw. der Markgrafschaft Meißen oder der Formierung (über)regionaler Bündnisse gegen die Hussiten, aber auch durch Hinweis auf finanzielle Beziehungen wies A. Kaar ein dichtes Geflecht gemeinsamer Verbindungen und Interessen zwischen dem Landesherrn/Landvogt und den Städten nach. Die Bedeutung des Herrschers für die Bürger zeigte sich bei der Erteilung, Durchsetzung und Wahrung von Privilegien. Die miteinander konkurrierenden Städte Bautzen und Görlitz etwa ließen sich von Sigismund wechselweise ihre Privilegien bestätigen, um so den Anspruch auf Vorherrschaft gegenüber der Rivalin zu untermauern. Als Gerichtsherr und Regent übte Sigismund durch Delegationen und Stellvertreter Macht aus und band die Städte insofern mit ein, indem er loyale Persönlichkeiten in Ämter berief, die regionales Gewicht besaßen. Unter diesen Voraussetzungen konnte sich Sigismunds Herrschaft aus der Ferne 17 Jahre lang erfolgreich behaupten und entwickelte sich ein übergreifendes Oberlausitzer Landesbewusstsein.  

Lutz Bannert (Dresden) beschäftigte sich mit dem Retablissement in Kursachsen, jener Epoche nach dem Ende des 7-jährigen Krieges 1762 und der Gründung des Königreichs Sachsen 1806, als der Wiederaufbau und die grundlegende Reformierung des wettinischen Herrschaftsgebiets erfolgten. Maßgeblichen Einfluss auf die umfassende Erneuerung hatte die eigens gegründete "Restaurierungskommission" unter Thomas Freiherr von Fritsch, die Reformvorschläge erarbeitete. Zwar stand diese Phase des Umbruchs unter dem Eindruck der Spätaufklärung und Säkularisation, jedoch blieb die Religion weiterhin alles durchdringendes Element in der Gesellschaft und zentralgeistlicher Hintergrund menschlichen Handelns. Reformhandeln war daher untrennbar mit der religiösen Prägung der Akteure verbunden. In Kursachsen gab es unterschiedliche Spielarten des Protestantismus, orthodoxe Strömungen neben liberalen Gesinnungen, die religiöse Toleranz propagierten. Der Pietismus verschränkte Glauben mit Handeln und definierte Tätigsein als Gottesdienst, die Wettiner hingegen gehörten dem Katholizismus an. Für die Untersuchung des Verhältnisses von Glauben und Religionsausübung in Zusammenhang mit dem Reformhandeln sei deswegen ein religionssoziologischer Ansatz zu wählen. Gleichfalls seien bestimmte berufliche oder gesellschaftliche  Gruppierungen wie Verwaltungsfachleute, Landstände oder Mitglieder des Herrscherhauses zu berücksichtigen, die für die Reformpläne relevant waren.

Am Beispiel der Sorben legte Friedrich Pollack (Leipzig) die "Endeckung des Fremden" dar, die aus Sicht der Gelehrten im 18. Jahrhundert erfolgt sei. Das wachsende Interesse an den Sorben zeige sich an der seit dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts ansteigenden Zahl an Veröffentlichungen. Bis 1810 habe die Sorabika-Produktion zu rund 80 Prozent theologische Publikationen ausgemacht, etwa 20 Prozent seien geschichtlichen, volkskundlichen oder linguistischen Darstellungen zuzuordnen. Zunächst seien Sorben als Christen, aber noch nicht unter ethnischen Gesichtpunkten wahrgenommen worden, erst später habe man sie als eigenes Volk aufgefasst, jedoch auch ihre kulturelle Bedeutung für die Oberlausitz erkannt. Anhand von Büchern machte F. Pollack den sich vollziehenden Sichtwandel und das veränderte Verständnis im Verlauf des 18. Jahrhunderts anschaulich. "Derer Oberlausitzer Sorberwenden umständliche Kirchengeschichte" (1767) von Christian Knauth, Pfarrer zu Friedersdorf, erwähne bereits im Untertitel den bedeutenden Einfluss der Sorben auf die Kirchengeschichte der Deutschen in der Oberlausitz. Johann Gottlieb Ohnefurcht Richters erste Feldstudie zu den Sorben sei der Versuch einer vorurteilsfreien Darstellung gewesen, sie konstruiere aber Wesensmerkmale der Sorben, die sich später verfestigt hätten. Die Wahrnehmung der Sorben durch die Gelehrten geschah nicht zuletzt auch unter dem Gesichtspunkt des Gegensätzlichen, indem sie deutsche Identität sorbischer Alterität gegenübergesehen und dieses festgestellte "Anderssein" der Sorben auch visualisiert hätten, beispielsweise Nathanael Gottfried Leske in seiner "Reise durch Sachsen in Rüksicht [sic!] der Naturgeschichte und Ökonomie" (1785).

Den Höhepunkt der Mitgliederversammlung bildete die Verleihung der Ehrenmitgliedschaft an Prof. Günter Mühlpfordt, der sich nicht zuletzt um die Wiederbegründung der OLGdW verdient gemacht hat. In einer Ansprache würdigte Michael Leh (Neschwitz) Leben und wissenschaftliches Werk des Geehrten. Danach bestand die Möglichkeit, die Sonderausstellung "Tuchintarsien in Europa von 1500 bis heute" im Museum Bautzen zu besuchen. Erfreulich viele Teilnehmer der Tagung schlossen sich der Führung an und erhielten die seltene Gelegenheit, der Herstellung eines Bildteppichs beizuwohnen. Die Berliner Künstlerin Ursel Arndt erläuterte die viel Fingerspitzengefühl und Genauigkeit erfordernde Technik und erklärte den von ihr geschaffenen modernen Bildteppich "Stückwerk Berlin - Stückwerk Europa". Unter den aus ganz Europa und den USA leihweise in Bautzen versammelten textilen Kunstwerken gab es auch Beispiele aus heimischen Museen zu bewundern, wie den Bautzener "Flickenteppich" oder schlesische Erzeugnisse aus Görlitzer oder Breslauer Sammlungen.