Bericht zur Frühjahrstagung am 24. und 25. April 2015 in Görlitz

Arnold Klaffenböck, Salzburg

Die diesjährige Frühjahrstagung der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften e. V. im Barockhaus in der Görlitzer Neißstraße fiel mit einem kleinen Jubiläum zusammen. Im 236. Jahr ihres Bestehens feierte die gleichsam als Kind der Aufklärung 1779 begründete OLGdW den 25. Jahrestag ihrer Wiederbegründung nach der politischen Wende in Deutschland 1989/90. Erfreulich rege war das Interesse der zahlreich erschienenen Teilnehmer und äußerst vielfältig das Spektrum der Beiträge dieser Tagung.

Dr. Jasper von Richthofen, Direktor des Kulturhistorischen Museums Görlitz, wies in seiner Begrüßung auf das gegenseitige Geben und Nehmen der hier etablierten Institutionen hin und sprach den Wunsch aus, bei der Zusammenarbeit künftig noch stärker mit der OLGdW zusammenwirken zu wollen. Grußworte des Präsidiums überbrachte Kai Wenzel, der auch die Moderation des Freitagabends übernahm.

Der Eröffnungsvortrag von Dr. Boris Böhm, Leiter der Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein, widmete sich ganz dem Leben und Wirken Gottlob Adolf Ernst von Nostitz und Jänkendorfs (1765–1836), dessen Geburtstag sich zum 250. Mal jährte. Der auf Schloss See bei Niesky geborene Jurist, Politiker und Gutsherr in Oppach stammte aus einer der einflussreichsten und ältesten Adelsfamilien der Oberlausitz. Unter dem Pseudonym Arthur Nordstern erlangte er auch als Schriftsteller gewisse literarische Bedeutung. Sein Präsidentenamt der OLGdW, die für ihn zur geistigen Heimat wurde, fiel in die krisengebeutelte Zeit der Napoleonischen Kriege bzw. der Landesteilung der Oberlausitz durch die Beschlüsse des Wiener Kongresses. Von seiner starken sozialen und karitativen Gesinnung kündete u. a. das schon 1794 in Oppach begründete Armenhaus. Die politische Laufbahn führte den Amtshauptmann des Bautzener Kreises nach Dresden, wo er als Oberkonsistorialpräsident der evangelischen Kirche, der Leipziger Landesuniversität sowie den Landesschulen vorstand. Als Direktor der Kommission für die Landes-, Straf- und Versorgungsanstalten trug er für die Heil- und Pflegeanstalt auf Schloss Sonnenstein in Pirna Verantwortung, schließlich rückte er zum Staatsminister im Königreich Sachsen auf, ehe er 1831 seinen Abschied nahm. Von seiner Naturverbundenheit, den schöngeistigen Interessen und dem dichterischen Fleiß zeugen z. B. die Ausgestaltung des Oppacher Schlossparks, sein Engagement für das Bautzener Theaterprojekt sowie Veröffentlichungen in der „Lausitzischen Monatsschrift“ bzw. im „Lausitzischen Magazin“.

Ähnlich wie im Vorjahr konnte auch heuer wieder der Hermann-Knothe-Preis zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses vergeben werden. Diesmal ging er an Sven Brajer (Dresden) und damit an ein Mitglied unserer Gesellschaft. In seiner Laudatio würdigte Dr. Steffen Menzel, Präsident der OLGdW, S. Brajers Arbeit als ein bislang eher rares Beispiel für die wissenschaftliche Beschäftigung mit einem wesentlichen Kapitel Oberlausitzer Wirtschaftsgeschichte, die über weite Strecken noch der gründlichen Erforschung harre. S. Brajer schenkte seine Aufmerksamkeit dem wirtschaftlichen Strukturwandel in der südlichen Oberlausitz auf dem Gebiet des Textilgewerbes in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Anhand von zwei Firmen – jener von Carl Gottlieb Hoffmann aus Neugersdorf und der von Hermann Wünsche aus Ebersbach/Sa. – zeichnete er den Übergang heimischer Betriebe von der handwerklichen zur industriellen Produktion und den damit verbundenen Wandel von Infrastruktur, Technik und Arbeitsmethoden nach. Dieser Prozess wurde verstärkt in den 1850er-Jahren wirksam und beschleunigte sich angesichts der ökonomischen Dynamik mit der Reichsgründung 1871 und der sprunghaft wachsenden Bevölkerungszahl. Hoffmann, der 1833 das Neugersdorfer Stammhaus zur Herstellung von Webbrettern erworben und ein Jahr später Handwebstühle aufgestellt hatte, wurde zu einem der größten Verleger für Textilwaren. Ab 1862 ging er serienmäßig zur Mechanisierung der Produktion über und galt 1875 als der größte Textilfabrikant Sachsens. Im benachbarten Ebersbach gründete Wünsche 1868 seine Firma zunächst als Handweberei, ehe 1870–1872 die Stammfabrik errichtet wurde, die zur bedeutendsten Fabrik Ebersbachs aufstieg. Beide Firmengeschichten veranschaulichten die parallel dazu ablaufenden, gravierenden Veränderungen des gesellschaftlich-sozialen Gefüges: Die früheren Hausweber verließen ihre häuslichen Produktionsstätten und verdingten sich als Fabrikarbeiter. S. Brajer machte deutlich, dass die Weberdörfer der südlichen Oberlausitz mit ihrem ausgeprägten Verlegerwesen im 17./18. Jahrhundert geradezu ideale Bedingungen boten zur industriellen Textilproduktion im 19./20. Jahrhundert. Letztlich waren sie die Voraussetzung für die Entstehung der Textilregion Oberlausitz.

Ebenfalls im Rahmen der Frühjahrstagung der OLGdW und schon zum zweiten Mal verliehen wurde der Jacob-Böhme-Preis, über den sich wegen der zahlreichen Einreichungen diesmal gleich zwei Kandidaten freuen durften. Dr. Thomas Regehly (Offenbach am Main) vom Internationalen Jacob-Böhme-Institut hob die Qualitäten der von einer Fachjury begutachteten Arbeiten hervor und begründete die Auszeichnungen beider Preisträger: Dr. Tünde Beatrix Karnitscher (Budapest) setzte sich mit der Entstehung und Erweiterung des Rezipientenkreises des Werkes Böhmes auseinander, wobei sie die „Theosophischen Send-Briefe“ als Grundlage für ihre Analysen heranzog, während sich Dr. Filips Defoort (Gent) für das Thema der Prädestination bei Böhme interessierte.

Anschließend referierte Dr. Gregor Metzig (Regensburg) unter dem Titel „Wege der Wahrheit. Die Erben der böhmischen Reformation in der Oberlausitz“ vor dem Hintergrund der Jan-Hus-Ausstellung, die von Mitte August bis Anfang November 2015 im Zittauer Museum präsentiert wird. Nationalgeschichtsschreibung und konfessionelle Engführung hätten den Blick auf Jan Hus bzw. die Hussiten nachhaltig getrübt. Dies habe etwa dazu geführt, dass die massiven Folgen der böhmischen Reformation sowohl für Böhmen als auch für die Oberlausitz bis heute kaum untersucht worden seien. G. Metzig rief in Erinnerung, dass das Auftreten der Hussiten auf beiden Seiten der Grenze Auswirkungen hatte, positive wie negative. Die Anerkennung (des von den Hussiten abgelehnten) Königs Sigismund durch die Oberlausitzer Stände habe mit dazu geführt, dass die Oberlausitz zum Aufmarschgebiet der Hussiten wurde. Darüber hinaus konnten die Anhänger Hus’ hierzulande auf Wohlwollen und Unterstützung durch Kollaborateure wie den Bautzener Stadtschreiber Peter Preischwitz oder auf Sympathisanten wie den Zittauer Stadtschreiber Oswald Pergener bauen, ohne die die Operationen der Hussiten im Sechsstädteland kaum denkbar gewesen wären. Die herrschende Geistlichkeit hingegen, namentlich die Meißener Bischöfe, reagierten mit restriktiven Maßnahmen und verboten hussitisches Schrifttum. Die Oberlausitz bot jedoch auch günstige Produktionsstätten für hussitische Texte, die etwa in Zittau und Lauban gedruckt wurden. Spätere Oberlausitzer Bezüge zur böhmischen Reformation ergaben sich mit Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf und der Herrnhuter Brüdergemeine, wobei es allmählich zum Imagewandel kam: Die auf den Gütern Zinzendorfs ansässigen böhmischen Brüder distanzierten sich von Hus und betonten dagegen ihre pazifistische Tradition mit dem Bezug auf die alte Brüderkirche. Zinzendorf sorgte für die Anerkennung der Gemeine als eigenständige Glaubensgruppe innerhalb der Augsburger Konfession, nachdem die Eingliederung der böhmischen Brüder in die lutherische Konfession gescheitert war. Andererseits bestanden auch bei Zinzendorf Vorurteile gegenüber den Brüdern, insbesondere den tschechischen, die er als sog. „Stockböhmen“ mit negativen hussitischen Eigenschaften in Verbindung brachte. Während des 18. Jahrhunderts gelangten von der Oberlausitz aus Erweckungsbrüder auf Schleichpfaden immer wieder nach Böhmen, um heimlich zu missionieren. Erst während der josephinischen Aufklärung wurde dort ein offenes Bekenntnis zur lutherischen bzw. reformierten Kirche möglich, wenngleich das Verbot der hussitischen Kirche aufrecht blieb.

Thematisch – obwohl mit einem großen Zeitsprung – knüpfte Lucia Henke (Strahwalde) bei der Herrnhuter Brüdergemeine an und stellte den Pfälzer Nikolaus Hey vor, der als Mittezwanzigjähriger 1888 an die Missionsschule von Niesky kam, um sich dort ausbilden zu lassen. 1891 wanderte er als klassischer Handwerkermissionar nach Australien aus. In North Queensland baute er zusammen mit einem britischen Theologen im Auftrag der Presbyter und mit logistischer Unterstützung durch den Gouverneur eine Station in Mapon, einem Ort mit damals hoher Kriminellenrate, auf. Heys Briefe nach Niesky, adressiert an seinen Lehrer, zeugen vom mühevollen Alltag und den anfänglich geringen missionarischen Erfolgen bei den Ureinwohnern, die Hey „die Schwarzen“ nannte. Als einen Kern ihrer Untersuchungen sah L. Henke die Frage, wie der deutsche Missionar Hey die australischen Ureinwohner einordnete und empfand. Vielfach bekundete Hey in seinen Briefen ausgeprägtes Schwarz-Weiß-Denken und packte seine Empfindungen in Bilder, wenn er vom „Licht des Glaubens“ und der „Dunkelheit des Unglaubens“ sprach. Seine Wertungen, so L. Henke, seien schwankend und von kulturellen Missverständnissen geprägt. Mal argumentiere Hey von einer europäisch-kolonialistischen überheblichen Warte, mal vom Standpunkt der Nächstenliebe und Freundschaft, aber auch Überforderung und Aggression ließen sich an den Briefzeilen ablesen. Keineswegs aber dürfte Hey die ihm anvertrauten Urbewohner Australiens jedoch als Ebenbürtige gesehen haben. Im Anschluss stellte Ulrich Schubert die neu erschienene Chronik „Allerlei aus Friedersdorf an der Landeskrone“ vor. Das unweit von Görlitz gelegene Dorf verweist auf eine fast legendäre chronistische Tradition, zumal im dortigen Pfarrhaus mit Christian Knauthe einer der Begründer der Oberlausitzer Geschichtsschreibung und Heimatforschung wirkte. Im Jahr 2007 beging man den 300. Geburtstag Knauthes, was den Anlass bot, diese heimische chronistische Überlieferung wiederzubeleben und fortzusetzen. Das von einer Autorengruppe verfasste, reich illustrierte Buch erschien als siebter Band der Krobnitzer Hefte beim Schlesisch-Oberlausitzer Museumsverbund und ist im Handel erhältlich.

Dass bei der Frühjahrstagung der OLGdW Jungakademiker ihre Forschungsvorhaben präsentieren und diese im Plenum diskutiert werden, ist inzwischen schon eine lieb gewordene Tradition. Martin Christ (Oxford) stellte sein Promotionsprojekt zu Tendenzen und Prozessen der Reformation in der Oberlausitz vor und gab einen detaillierten Einblick in den geplanten Aufbau seiner Arbeit. Christs Ausführungen zufolge nahm die Reformation hierzulande einen eher langsamen, teils jahrzehntelangen Verlauf. In den Städten setzten sich Elemente des Luthertums in den 1520er-Jahren durch, während sie auf dem Land zögerlicher wirksam wurden. Für die Oberlausitz sei so etwas wie konfessionelle Ambiguität charakteristisch gewesen. Folglich gab es zwischen Pulsnitz und Queis keine vollständige Reformation, vielmehr ein religiöses Nebeneinander, aber auch wechselseitige Beziehungen und Beeinflussung bis hin zum gemeinsamen Agieren gegen die Kryptocalvinisten. Es bestand eine unübersichtliche, komplexe Gemengelage, welche beide Konfessionen darin behinderte, ihre Ansprüche und Interessen durchzusetzen. Einerseits fehlte ein hier ansässiger Landesherr, um die Reformation flächendeckend durchzuführen, andererseits war der Habsburgerherrscher zu weit entfernt, um den Katholizismus zu erhalten. Anhand biografischer Fallbeispiele versucht M. Christ in seiner Arbeit die Komplexität und Vielschichtigkeit der Oberlausitzer Reformation nachzuzeichnen, wobei Letztere sowohl aus evangelischer als auch aus katholischer Sicht zu beleuchten sei. Auszuloten seien überdies die Interaktion der Sechsstädte bzw. die Grenzen der Oberlausitzer Toleranz, etwa im Umgang mit den Schwenkfeldern, Calvinisten, Wiedertäufern und Zwinglianern. Eine Fragestellung soll sich der Überlegung widmen, ob die Oberlausitzer Reformation eine „gebremste“ (Zitat Jens Bulisch) oder eine grundsätzlich andere, eine „besondere“ Reformation gewesen sein könnte. Exemplarisch führte M. Christ ins Treffen, dass diese Bewegung auf beiden konfessionellen Seiten pragmatische Züge trug, wie sich etwa am katholischen Gesangsbuch des Bautzener Domdekans Johann Leisentrit erkennen lasse. Bei dessen Illustration dürften Kompromisse notwendig geworden sein, indem lutherisches Bildergut zur Darstellung einer katholischen Predigt verwendet und geduldet wurde.

Ariane Bartkowski (Chemnitz/Dresden) beschäftigte sich in ihrem Vortrag mit der Alchemie am kursächsischen Hof während des 16. und 17. Jahrhunderts. Mit der reformationsbedingten Auflösung der Klöster sei die Alchemie vom ursprünglich klerikal-monastischen Bereich an die Fürstenhöfe gewechselt, wo sie zur höfischen Modeerscheinung wurde. An ihr partizipierte auch Kurfürst August I. von Sachsen (1526–1586), der schon als Kind in Freiberg mit der Alchemie in Berührung gekommen sein soll. Seit 1560 widmete er sich systematisch der Alchemie. Auf seinen Schlössern Annaburg, Augustusburg, Hartenfels, Wolkenstein und Stolpen sowie im sog. „Goldhaus“ nahe dem Dresdener Schloss ließ er Laboratorien einrichten. Seine Ehefrau Anna von Dänemark, deren familiärer Hintergrund gleichfalls vom lebhaften Interesse für Alchemie geprägt war, dürfte ihn dabei unterstützt haben. Den Abschluss der Tagung bildete eine Führung durch die neu adaptierte Galerie der Moderne des Kulturhistorischen Museums Görlitz im dritten Obergeschoss des Kaisertrutzes.

Kai Wenzel, der die gegenwärtige Schau maßgeblich mitgestaltet hatte, machte die Besucher mit ausgewählten Gemälden, Grafiken, Plastiken und Werken der angewandten Künste aus Museumsbesitz vertraut. In dem eineinhalbstündigen Rundgang wurde die Rolle der Stadt Görlitz als bedeutendes künstlerisches Zentrum zwischen dem Fin de Siècle und der Ära des Nationalsozialismus spürbar. Der heimische Kunstbetrieb hatte an Strömungen und Einflüssen teil, die insbesondere von den Kunstakademien in Breslau und Dresden ausgingen. Einige Künstlerinnen und Künstler wurden zu Wegbereitern der Moderne in Görlitz, wie Fritz Neumann-Hegenberg. Andere wie Willy Schmidt, ein Schüler des „Brücke“-Malers Otto Mueller, Erna von Dobschütz, Walter Rhaue und vor allem Johannes Wüsten boten einen eindrucksvollen Querschnitt durch Impressionismus, Expressionismus und Neue Sachlichkeit. Manche der gezeigten Werke waren Neuerwerbungen der letzten Jahre. Darüber hinaus wurden aber auch Beispiele des Görlitzer Kunstschaffens in der DDR und der Gegenwart vorgestellt. Den Höhepunkt stellte sicherlich das monumentale Gemälde „Jerusalem“ von Lesser Ury dar, nicht zuletzt wegen des bewegenden Schicksals dieses lange verloren geglaubten Kunstwerks.