Bericht zur Frühjahrstagung am 27. und 28. Mai 2011 in Görlitz

von Dr. Arnold Klaffenböck, Salzburg

Unter dem Motto "Die VIA REGIA - Leben mit der Straße" lud die Oberlausitzische Gesellschaft der Wissenschaften e. V. ihre Mitglieder für den 27. und 28. Mai 2011 nach Görlitz ein, diesjähriger Schauplatz der 3. Sächsischen Landesausstellung "via regia - 800 Jahre Bewegung und Begegnung". Das Programm der Tagung knüpfte inhaltlich an die Schau im Kaisertrutz an, setzte allerdings den thematischen Schwerpunkt auf chronikalische Überlieferungen aus der Oberlausitz und Schlesien - zwei Ländern also, die von der via regia oder Hohen Straße durchquert und miteinander verbunden wurden, so dass über Jahrhunderte ein vielfältiger wechselseitiger Austausch in wirtschaftlicher, politischer und kultureller Hinsicht erfolgte. Großzügig unterstützte die VEOLIA-Stiftung Görlitz diese Tagung finanziell und trug dadurch wesentlich zum Gelingen der Veranstaltung bei, die viele Interessierte aus nah und fern in die Neißestadt zum Gedankenaustausch zusammenführte.

Dr. Steffen Menzel, Präsident der OLGdW, eröffnete die Tagung im Großen Ratssaal mit einem kurzen Einblick in das reichhaltige Programm und leitete zu den beiden Vorträgen des Abends über, die sich mit dem aus Kittlitz bei Löbau gebürtigen und späteren Jenaer Bibliotheksdirektor und Rechtsgelehrten Christian Gottlieb Buder (1693-1763) beschäftigten. Es war eine faszinierende Persönlichkeit, deren Werdegang, Leben und Wirken exemplarisch anschaulich werden lassen, wie Wissenstransfer und wissenschaftliche Netzwerke im 18. Jahrhundert funktionierten. Dr. Uwe Koch (Berlin) rief mit Buder eine heute weitgehend in Vergessenheit geratene, zu ihrer Zeit sehr bedeutende Oberlausitzer Persönlichkeit in Erinnerung, die in den Genuss der Bautzener Dr.-Gregorius-Mättig-Stiftung gekommen war. Buder durfte sämtliche Förderungen dieses Vermächtnisses in Anspruch nehmen, die seine angestrebte akademische Laufbahn überhaupt erst ermöglichten. An Buder wurde deutlich, wie segensreich und notwendig die vom Bautzener Arzt Dr. Gregorius Mättig (1585-1650) initiierte materielle und finanzielle Unterstützung bei der Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses durch das Mättigianum bzw. das Mättig-Stipendium aufgrund ungesicherter Lebensumstände oder labiler sozialer Netze war. Anhand weiterer ausgewählter Beispiele aus der Oberlausitz verdeutlichte Dr. Koch den Umstand, dass insbesondere den Söhnen von Pastoren, Lehrern oder Advokaten ohne derartige Hilfe eine akademische Karriere verwehrt geblieben wäre.

Daran anschließend berichtete Dr. Thomas Mutschler (Jena) über die Erschließung und Aufarbeitung des überlieferten Schrifttums Buders. Der im Besitz der heutigen Thüringischen Universitäts- und Landesbibliothek Jena, langjährige Wirkungsstätte Buders, befindliche Bestand umfasst rund 12.000 Bände und stellt einen im Grunde bislang ungehobenen wissenschaftlichen Schatz dar, der gegenwärtig mit Hilfe des Digitalisierungsprojektes "UrMEL" (Universal Multimedia Electronic Library) zugänglich gemacht wird. In Zukunft soll es möglich sein, Buders Bibliothek über diese digitale Publikationsplattform abzurufen und zu benutzen.

Ungeachtet des herrlichen Frühlingswetters fanden auch die Vorträge am Sonntag im Seminarraum des Senckenberg Museums für Naturkunde Görlitz zahlreiche Zuhörer. Nach der Begrüßung der Teilnehmer und Referenten durch Dr. Steffen Menzel weckte Dr. Mario Müller (Potsdam) mit dem rätselhaft klingenden Titel seines Beitrages "Das Lusthaus hinter dem Dom" Neugierde auf das sog. "Chronicon Silesiae". Als Einstieg diente ein Rechtsstreit zwischen Breslau und Görlitz, der wegen einer Beleidigung eskaliert war. Damit lenkte M. Müller das Interesse auf ein bisher unbekanntes Geschichtswerk, das nicht zuletzt bemerkenswerte Einblicke in das Leben der Menschen aus dem unmittelbaren Einzugsgebiet der via regia bietet - eine Verkehrsader, die der Vortragende als die vielleicht wichtigste Königsstraße im Deutschen Reich bezeichnete. Mitte des 19. Jahrhunderts war das "Chronicon Silesiae"  vermutlich von privater Seite in den Bibliotheksbestand der OLGdW gelangt. Zeitweilig hatte man es fälschlich mit dem Görlitzer Bürgermeister, Astronomen und Historiographen Bartholomäus Scultetus in Beziehung gebracht. Vermutlich der Feder eines Breslauer Schreibers in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts entsprossen, schildert diese Chronik in erster Linie historische Begebenheiten in Schlesien, aber auch aus den angrenzenden Gebieten wie der Oberlausitz in der Zeit zwischen 1052 und 1573. Sie beginnt in der Epoche der Piasten-Herrschaft, der Gründung des Bistums Breslau und behandelt den Übergang Schlesiens von Polen an das Königreich Böhmen im 14. Jahrhundert. Für das darauffolgende Jahrhundert erwähnt sie u. a. die städtischen Unruhen in Breslau, die zwischen der städtischen Oberschicht und Vertretern der Zünfte ausgebrochen waren, ferner die Hussitenkriege sowie die Wirren um den böhmischen Thron im Konflikt zwischen Georg von Podiebrad und Matthias von Ungarn. Am Übergang vom 15. zum 16. Jahrhundert berichtet sie von Querelen zwischen dem Breslauer Bischof, Domkapitel und der Bürgerschaft, außerdem von Geschehnissen während der Reformation. Durch das von Studenten an der TU Chemnitz transkribierte und für die Veröffentlichung wissenschaftlich vorbereitete "Chronicon Silesiae" soll die 1870 eingestellte Reihe der "Scriptores rerum Lusaticarum" wiederbelebt und eine wissenschaftliche Tradition der OLGdW fortgeführt werden.

Neben Vorträgen bot die Tagung auch die Möglichkeit, neu erschienene Publikationen, die unter federführender Beteiligung von Mitgliedern unserer Gesellschaft in jüngster Zeit entstanden sind, zu präsentieren. Swen Steinberg M. A. (Dresden) stellte den Essayband "Menschen unterwegs.  Die via regia und ihre Akteure" vor, den der Sandstein-Verlag zusammen mit einem Katalog als gediegene Begleitpublikation zur Görlitzer Landesausstellung herausgegeben hat. Er enthält in gut lesbarer Form - jeweils mit Kurzfassungen in englischer, polnischer und tschechischer Sprache - jene Beiträge, die aus den Referaten für die Herbsttagung der OLGdW im November 2010 hervorgegangen sind und ein facettenreiches kulturhistorisches Spektrum entfalten. Prof. Dr. Winfried Müller (Dresden) führte in das für eine breite Leserschaft gedachte, daher populärwissenschaftlich gehaltene und sehr ansprechend gestaltete Buch "Die Oberlausitz" ein. Dieses Gemeinschaftswerk, das er mit den Autoren Lars-Arne Dannenberg, Edmund Pech und Swen Steinberg bei der Edition Leipzig herausgebracht hat, ergänzt als vierter und vorletzter Band die Reihe "Kulturlandschaften Sachsens", die sich abgesehen von der Oberlausitz dem sächsischen Kernland an der Elbe, dem  Leipziger Raum, dem Erzgebirge sowie dem Vogtland widmet. (Nähere Informationen zu den Publikationen finden sich auf der Homepage der Verlage.)

Nach vierjähriger Pause konnte glücklicherweise wiederum der "Hermann-Knothe-Preis" verliehen werden. Der von den Sechsstädten und dem polnischen Zgorzelec dotierte "Wissenschaftspreis der Oberlausitz" wurde zum zweiten Mal vergeben und ging an den Görlitzer Markus Lammert, der anhand veröffentlichter Quellen, Dokumente und Abhandlungen die Teilung der Stadt Görlitz im Jahre 1945 und die Folgen für ihre Bewohner untersuchte. Obwohl die neue Staatsgrenze, die den historisch gewachsenen urbanen Körper plötzlich trennte, und der Bevölkerungsaustausch in der ehem. Oststadt die Spaltung vertieften, blieben beide Stadtteile aufgrund gemeinsamer Infrastruktur und bei der Versorgung der Bewohner mit Wasser oder Energie aufeinander angewiesen. Sie waren gewissermaßen zur Kooperation gezwungen, um die existenziellen Probleme bewältigen zu können. Aufgrund der drückenden Versorgungslage mit Lebensmitteln und schwer zu überwindenden Mangelwirtschaft entfaltete sich zeitweise ein reger Schmuggel über die Neiße. Auf diese Weise machten wirtschaftliche Kontakte zwischen Deutschen und Polen den tristen Alltag und die Realität der neuen Grenze zumindest im Kleinen erträglicher und durchlässiger. Die Übergabe des Preises an M. Lammert erfolgte durch den Görlitzer Oberbürgermeister Joachim Paulick sowie den stellvertretenden Bürgermeister von Zgorzelec, Piotr Konwiński. Durch die verliehene Keramik-Plakette, welche eigens von der Töpferei Frommhold in Königsbrück angefertigt worden war, wird der Hermann-Knothe-Preis nunmehr auch optisch nach außen hin sichtbar.

Die zweite Hälfte des Vormittags gehörte dem Jungen Forum, dessen Vorträge sich mit Chroniken und Stiftungen beschäftigten. Annegret und Steffen Jatzwauk (Chemnitz) knüpften an das Referat von M. Müller zum "Chronicon Silesiae" an und zeichneten die verschlungenen Pfade nach, die einerseits das Geschichtswerk selbst, andererseits die beiden Wissenschaftler bei ihren Recherchen und Untersuchungen beschreiten mussten. S. Jatzwauk erläuterte zunächst das bewegte Schicksal der Chronik seit 1945, als sie nach kriegsbedingter Auslagerung verschwand, um Jahrzehnte später der Berliner Staatsbibliothek käuflich angeboten zu werden. Erst im Jahre 2006 wurde der Besitzstempel identifiziert, folglich ihre Provenienz erkannt und das "Chronicon Silesiae" am 20. April 2007 der Oberlausitzischen Bibliothek der Wissenschaften übergeben. A. Jatzwauk wählte für ihren Versuch, Aussagen über Herkunft, Verfasser und analoge Werke zu gewinnen, den originellen Vergleich einer Autofahrt ohne Navigationsgerät durch eine unbekannte Großstadt.  Da wie dort müsse man sich an markanten Merkmalen orientieren und sich langsam vorarbeiten. Dabei entdeckte A. Jatzwauk interessante Hinweise. Aufgrund inhaltlicher Übereinstimmungen äußerte sie die Vermutung, dass etwa der Liegnitzer Hofprediger Friedrich Lucae für seine 1689 publizierte schlesische Chronik jene aus dem Altbesitz der OLGdW herangezogen oder sie zumindest gekannt haben dürfte. Möglicherweise hat auch Nikolaus Pol in seinen "Jahrbüchern der Stadt Breslau" die Görlitzer Chronik als Vorlage benutzt. Als denkbaren Verfasser zog A. Jatzwauk den Abt des Breslauer Prämonstratenserklosters St. Vinzenz, Georgius Scultetus, in Erwägung. Mögliche verwandtschaftliche Beziehungen zum Görlitzer Bartholomäus Scultetus schloss sie wegen anderweitig nachweisbarer verwandtschaftlicher Beziehungen zwischen Breslauer bzw. Görlitzer Patrizierfamilien zumindest nicht aus. 

Ausgehend von der Überlegung, ob die Geschichte der städtischen Geschichtsschreibung, die auf den Studienplänen der Universitäten eher stiefmütterlich behandelt werde, dazu geeignet sei, Studierende mit der Arbeitsweise der Geschichtswissenschaft vertraut zu machen, referierte Tim H. Deubel (Dresden) über Editionsübungen, die er im Sommersemester 2010 an der TU Dresden durchführte. Dafür wählte er den dritten Band der sog. "Klahre-Wahren-Chronik" des Bautzener Stadtarchivs aus, die den Zeitraum von 1583 bis 1683 berücksichtigt. Von den in Bautzen verwahrten 50 Chroniken gilt sie mit Abstand als die bedeutendste und dürfte in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstanden sein. In Gruppenarbeit sollten sich die Studenten schrittweise mit diesem Geschichtswerk auseinandersetzen und dabei Fragen, wie jene nach dem Eigenwert von Chroniken als Speichermedium verschiedener Nachrichten und Dokumente oder deren Quellenwert, diskutieren. In Form von Powerpoint-Präsentationen stellten sie schließlich die Ergebnisse ihrer Transkriptionen vor und erläuterten die Vorgehensweise beim Erstellen kritischer Editionen der ausgewählten Passagen aus der Chronik. Von den Resultaten dieser studentischen Übung konnten sich die Teilnehmer der Frühjahrstagung selbst überzeugen, da sie als Ausdrucke vorgelegt wurden.

Zuletzt sprach Emanuel Priebst (Dresden) über die Geschichte von Stiftungen in Bautzen und Görlitz während des 16. und 17. Jahrhunderts, die er anhand eindrücklicher Beispiele illustrierte. Ähnlich wie bei der Mättig-Stiftung waren für deren Begründung soziale und karitative Motive ausschlaggebend. Testamentarische Verfügungen oder aus tiefer Gläubigkeit entspringende Mildtätigkeit betuchter Patrizier konnten hierfür ebenfalls ausschlaggebend sein wie Standesbewusstsein oder Gemeinschaftssinn.

Aus aktuellem Anlass informierte schließlich noch Winfried Töpler (Görlitz) von einer in sprachwissenschaftlicher Hinsicht spektakulären Entdeckung. Bei der Begutachtung einer Sammelhandschrift aus dem Besitz der Pfarrbibliothek von Jauernick im Handschriftenzentrum Leipzig war man auf eine Randbemerkung im Text gestoßen, die sich als ältester niedersorbischer Satz, der bislang bekannt wurde, herausstellte. Die Handschrift stammte ursprünglich aus dem Dominikanerkloster von Luckau in der Niederlausitz und war für den Schulgebrauch bestimmt. Das gefundene Schriftzeugnis belegt, dass in der Luckauer Klosterschule auch sorbische Novizen ausgebildet wurden.

Im Anschluss an die Mitgliederversammlung bot sich die günstige Gelegenheit, die 3. Sächsische Landesausstellung im Rahmen einer fachkundigen Führung zu besuchen. Beim Rundgang durch die neu adaptierten Stockwerke des frisch renovierten Kaisertrutzes wurde deutlich, dass die gezeigten, teilweise herausragenden Objekte hauptsächlich aus dem früheren kursächsischen Raum einschließlich der Oberlausitz, darüber hinaus vor allem aus Niederschlesien und Polen stammten. Erfreulicherweise fanden sich darunter auch einige aus dem Besitz der Oberlausitzischen Bibliothek der Wissenschaften, so dass indirekt auch die OLGdW und ihre reiche Geschichte würdig vertreten waren.