Oberlausitzer Bibliotheken und ihre Sammlungen

Herbsttagung der OLGdW am 1. und 2. November 2019 in Görlitz (in Kooperation mit den Görlitzer Sammlungen für Geschichte und Kultur)

Die vielfältige Bibliothekslandschaft in der Oberlausitz bildete in diesem Jahr den Rahmen zu der im Johannes-Wüsten-Saal in Barockhaus Neißstraße 30 stattfindenden Herbsttagung unserer Gesellschaft. Die siebzehn im Programm angezeigten Vorträge ließen bereits Rückschlüsse auf das breit gefächerte Spektrum der vorzustellenden Büchersammlungen zu. Und in der Tat spannte sich der zeitliche Bogen von der mittelalterlichen Handschrift bis zur Online-Präsentation, wurden aktuelle Aufgabenstellungen wie Provenienzforschung, Bestandsbearbeitung und Digitalisierung thematisiert sowie Überblicke zur Geschichte und Gegenwart einiger Bibliotheken und ihrer Spezialbestände gegeben. Und schließlich wurde auch auf das enge Beziehungsgeflecht zu den „benachbarten“ Wissenschaften von Museologie und Archivwesen eingegangen. Um es gleich vorweg zu nehmen: Die fast 60 Teilnehmer erlebten eine abwechslungsreiche Tagung und zeigten sich mit dem gut strukturierten Programm sehr zufrieden.

Nach der Eröffnung durch den Präsidenten führte der erste Vortrag „Die Bibliothek in Bildern, oder: die Geburt des Museums“ von Prof. Dr. Volkhard Huth in die Frühgeschichte des modernen Museumsbegriffs ein. In einer heute leider nicht mehr vorhandenen Villa am Comer See trug der italienische Arzt, Geschichtsschreiber und katholische Bischof Paolo Giovio (1483-1552) eine Porträtsammlung zeitgenössischer Persönlichkeiten zusammen, bei der höchster Wert auf Authentizität der Abgebildeten gelegt wurde. Sein 1546 gedruckter Sammlungskatalog „Musaei Joviani Descriptio“ greift erstmals den aus der Antike überlieferten Begriff des Museums auf und führt diesen als Bezeichnung für unterschiedliche Sammlungen ein. Kai Wenzel knüpfte mit der Vorstellung der Kunst- und Raritätensammlung der Milichschen Bibliothek zu Görlitz an die enge Verbindung von Museum und Bibliothek an, die erst im ausgehenden 19. Jahrhundert aufgebrochen wurde. Auch die Sammlung des Schweidnitzer Juristen Johann Gottlieb Milich (1678–1726) vereinte wie selbstverständlich Bücher sowie Arteficalia und Naturalia, als sie 1727 der Stadt Görlitz testamentarisch übereignet wurde. Leider ist die Sammlungsgeschichte bis heute noch nicht vollständig aufgearbeitet. Wenngleich auch Verluste in den Beständen zu bedauern sind, so geben doch die nahezu lückenlos erhaltenen Kataloge umfassend Auskunft über Zu- und Abgänge dieser Kollektion. Ebenfalls noch nicht lückenlos nachvollziehbar ist das Schicksal der Stollberg-Roßlaschen Familienbibliothek. Dr. Lupold v. Lehsten stellte die im frühen 18. Jahrhundert gegründete und infolge von Besitzteilungen an unterschiedliche Linien gelangten Bibliothek vor und benannte einige der wichtigsten durch Exlibris ermittelte Glieder der Familie, die zur Mehrung der Sammlung betrugen. 1945 wurde der Bestand enteignet und gelangte zu großen Teilen an die Universitätsbibliothek Halle. Nach Ermittlung der Provenienz wurden die Bücher an die Familie restituiert. Zum Abschluss des ersten Vortragsblockes „Bibliotheken und Museen“ stellte die Leiterin der Städtischen Sammlungen Kamenz, Dr. Sylke Kaufmann, die Fortschritte des Lessing-Museums bei der Rekonstruktion der Büchersammlung Gotthold Ephraim Lessings vor. Ziel ist es, die 264 Bände zählende Privatbibliothek des Kamenzer Aufklärers durch Ankauf zeitgenössischer Buchausgaben zu rekonstruieren und dadurch einen sehr persönlichen Blick auf Lessings Interessen werfen zu können. Unter den bislang 109 Bände angeschafften Bänden sind u.a. Werke von Johann Gottfried Herder und Johann Joachim Winckelmann. Nach der Kaffeepause stellte Thomas Binder den Anwesenden anhand der Quellen im Stadtarchiv die wechselvolle Geschichte der Kamenzer Ratsbibliothek vor. Im Jahr 1666 als Bibliothek der Ratslateinschule angelegt, entgingen die Bücher 1707 einem verheerenden Stadtbrand, erhielten jedoch erst ab 1732 als besonders wertvolle Sammlung in enger Verflechtung mit der Schule wieder die entsprechende öffentliche Beachtung. 1819/20 fanden die Bücher dann in der Kapelle des Klostergartens eine eigene Aufstellung. Allerdings schwand im letzten Viertel des 19. Jh. erneut das Interesse an den überlieferten Bänden und erst mit der Schaffung neuer Räumlichkeiten im Jahr 1986 endete die Odyssee der in feuchte Kellerräume verbannten Bestände. Anlässlich ihres 350-jährigen Bestehens erschien 2016 eine Festschrift, die ausführlich Auskunft über die Wechselfälle dieser städtischen Büchersammlung gibt. Eine dagegen recht junge Bibliothek stellte Dr. Constanze Herrmann in ihrem Vortrag zur „Tauchritzer Volksbibliothek“ vor. Erst vor wenigen Jahren wurde diese im Pfarrhaus „wiederentdeckt“ und bearbeitet.  Neben der dem dienstlichen Gebrauch dienenden Pfarrbibliothek entstand sie im ausgehenden 19. Jahrhundert als eine für jedermann zugängliche Leihbibliothek. Die Oberlausitzer Landstände unterstützten die Anschaffung von Büchern und reichten dazu aller zwei Jahre Mittel für die Gemeinden aus. Bei Anja Moschke, Archivarin des Staatsfilialarchivs in Bautzen, bildete ebenfalls eine „Wiederentdeckung“ den Anlass ihres Vortrages. Sie referierte über die auf einem Dachboden der Stadtbibliothek gefundenen Bestände der Staatlichen Fachstelle für Büchereiwesen des Regierungsbezirkes Dresden-Bautzen. Die Akten gestatten detailreiche, oft ortsbezogene Einblicke in die Organisation des Bibliothekswesens in den 1920er Jahren bis nach 1945. Besonders gut ist die enge Zusammenarbeit der Fachstelle mit NS-Organisationen belegbar. In den Jahren 2015–2019 erfolgte die Bestandsbildung und  -bearbeitung, so dass die Aktenbestände nun für die Forschung zur Verfügung stehen. Dr. Steffen Menzel erhoffte sich mit seinem Überblick über die Nachlässe in der Oberlausitzischen Bibliothek der Wissenschaften in Görlitz ebenso weitere Impulse für die Forschung. Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert nahm die Oberlausitzische Gesellschaft der Wissenschaften wissenschaftliche Nachlässe ihrer Mitglieder auf oder fügte Brief- und Manuskriptsammlungen verstorbener Oberlausitzer Persönlichkeiten ihren Sammlungen bei. Nach 1945 gelangten weitere Konvolute in die das Erbe bewahrende OLB. Bis heute ist jedoch nur ein Teil davon erschlossen. Selbst das gewaltige Handschriften- und Briefkonvolut der beiden Gründer der OLGdW Adolf Traugott v. Gersdorf und Karl Gottlob v. Anton ist bisher noch nicht vollständig bearbeitet. Ausnahmen bilden etwa das schriftstellerische und kompositorische Werk Leopold Schefers oder die Manuskriptsammlung zu Ehrenfried Walther v. Tschirnhaus.

Am zweiten Tag startete Martin Munke, Sächsische Landes- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB) mit einem Überblick zu Oberlausitzer Quellen in der SLUB. Dabei legte er das Schwergewicht auf moderne Recherchemöglichkeiten im Internet und führte einige digitale Verzeichnisse vor, wie die Sächsische Bibliografie, Firmenbriefkataloge, das Kartenforum, Sachsen Digital oder die umfangreiche Sammlung der Fotothek. In der SLUB wird mit Hochdruck daran gearbeitet, die Bestände thematisch und quantitativ zu erweitern und dabei den freien Zugang zu garantieren. Dr. Robert Langer referierte anschließend über in ein sehr erfolgreiches Projekt der Provenienzforschung an der Stadtbibliothek Bautzen. Von 2014 bis 2018 suchte er im Altbestand/Regionalkunde nach NS-Raubgut. Durch etwas mehr als 10.000 Autopsien konnte er 2.914 unterschiedliche Provenienzen ermitteln, unter denen sich 10 NS-Raubgutfälle befanden. Zu den dabei gemachten spektakulären Entdeckungen gehören Teile der verloren geglaubten Büchersammlung von Edith und Georg Tietz, Mitgliedern der jüdischen Berliner Kaufhausdynastie. Die Bücher sind inzwischen im OPAC der Stadtbibliothek mit den entsprechenden Markierungen transparent verzeichnet. Ein anderes, nicht weniger interessantes Projekt zur Provenienzforschung am Herder-Instituts trug Dr. Cornelia Briel vor, indem sie die Wege der Bibliothek der Publikationsstelle Berlin-Dahlem in der Zeit des Zweiten Weltkrieges nachzeichnete. 1931 war diese Stelle zur Förderung der deutschen Ostforschung als Abteilung des Preußischen Staatsarchivs gegründet worden, nahm aber in der Zeit des Dritten Reiches schließlich nur noch propagandistische Aufgaben der NS-Ideologie wahr und sammelte geraubte Buchbestände aus den im Krieg besetzten Gebieten. Infolge zunehmender Bedrohung wurden 1943 die Bestände nach Lehn bei Bautzen, Sornßig und in andere oberlausitzer Dörfer verlagert und gelangten schließlich nach Coburg. Dort fielen Teile einer sowjetischen Throphäenkommission in die Hände, andere Teile wurden 1950 dem gerade gegründeten Herder-Institut in Marburg übergeben. Das Projekt zur Ermittlung der Herkunft der Bücher lief zwischen 2016 und 2019.

Nach einer kurzen Pause eröffnete Schwester Thaddäa Selnack OCist. mit der Vorstellung von Bibliothek und Archiv des Zisterzienserinnenklosters St. Marienstern die Vortragsreihe zu Kloster- und Kirchenbibliotheken. In ihrem schwungvollen Vortrag gab sie zunächst kurze Einblicke in die Geschichte des Klosters sowie in das klösterliche Leben und leitete daraus die inhaltlichen Schwerpunkte der Bibliothek ab. So bestimmen religiöse Handschriften und Drucke vom Spätmittelalter bis heute im Wesentlichen den Kern der Büchersammlung. Darunter befinden sich allerdings auch sehr wertvolle Bände. Verluste traten leider ein, als die an des Kloster Osseg/Osek abgegebenen Bestände nach 1945 durch die Tschechische Regierung beschlagnahmt wurden. 1985 erfolgte auch ein Verkauf von Büchern an die SLUB. Das Archiv enthält sehr viele Akten zum Klosterbesitz, bedürfe jedoch einer zeitgemäßen Erschließung. Diese Ausführungen wurden durch Dr. Jan Zdichynec um Informationen zu den Bibliotheken in St. Marienthal und der ehemaligen Oybiner Büchersammlung ergänzt. Trotz der einmaligen Kontinuität der beiden Frauenklöster seit dem 13. Jahrhundert bis heute liegen nur wenige Kenntnisse zur Geschichte der Bibliotheken vor. Kataloge sind erst für das 19. Jahrhundert überliefert und Besitzvermerke bislang noch nicht genügend erforscht. Aus Oybin und Osseg sei bekannt, dass auch antike Autoren und Weltliteratur in den Klosterbibliotheken vorhanden waren. In den Frauenklöstern hingegen überwiegen Werke zu Gebet, Kontemplation und Liturgie. Dr. Christoph Mackert, Leiter des Handschriftenzentrums am Universitätsarchiv Leipzig, berichtete danach in seinem Vortrag von Untersuchungsergebnissen an Handschriften aus Klöstern und Kirchen der Oberlausitz. So wurden in den Jahren 2002–2005 aus der Domstiftsbibliothek Bautzen 292 Handschriften erfasst, die zwischen dem 12. und dem 20. Jahrhundert entstanden sind. Darunter befinden sich wertvolle Texte, wie etwa der als Unikat zu behandelnde „liber rosarius“ von 1460/80, der wohl als Kompilation von Bibel und Kirchenvätern zu lesen ist. Der Gesamtbestand ist inzwischen publiziert. Zu den bislang völlig unbekannten Bücherschätzen gehörten die 107 Handschriften aus der Pfarrbibliothek in Jauernick. In den Jahren 2010–2015 wurde die bis an den Beginn des 15. Jahrhunderts datierten Manuskripte bearbeitet. Als kleine Sensation stellte sich dabei ein aus dem Dominikaner-Kloster Lukau stammender Band aus dem Jahr 1510 heraus, der in einer Randnotiz den ältesten sorbischer Sprachbeleg enthält. Die mittelalterlichen Handschriften und Fragmente des Klosters Marienthal werden seit 2016 untersucht. Als Besonderheit gelten ein Graduale von ca. 1430-50 sowie ein Psalter aus dem 1. Drittel des 13. Jahrhunderts. Eine Handschrift stammt vermutlich aus dem Kloster Pforta und ist um 1174/75 zu datieren.

Nach der Mittagspause stellte Dr. Konstantin Hermann (SLUB) das laufende Projekt zur Digitalisierung der kriegsbedingt verlagerten Bestände Görlitzer Provenienz vor. Nach konstruktiven Verhandlungen des Freistaates Sachsen mit der Republik Polen ist es gelungen, die in der Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Breslau befindlichen Handschriften und Drucke aus ehemaligem Görlitz Bibliotheks- und Archivbesitz schrittweise zu digitalisieren und auf Sachsen-Digital online zu stellen. Im Jahr 2018 waren das ca. 90.000 Images, bis 2020 werden jährlich weitere 80.000 Images hinzukommen. Eine gemeinsam zwischen der SLUB und der Oberlausitzischen Bibliothek der Wissenschaften in Görlitz erarbeitete Prioritätenliste dient dazu als Arbeitsgrundlage. Je nach Höhe der Bewilligung im Haushalt des Freistaates kann das Projekt im Jahr 2021 weitergeführt werden. Zum Abschluss der Tagung stellte die Leiterin des Archivverbundes Bautzen, Frau Grit Richter-Laugwitz, aktuelle Recherchemöglichkeiten von Akten- und Urkundenbeständen des Stadt- und Staatsfilialarchivs vor.  Im Gegensatz zu den Bibliotheken gäbe es ein dem Landesdigitalisierungsprogramm entsprechendes Förderinstrument für die sächsischen Archive leider nicht. Daher nutze der Bautzener Archivverbund zu Publizierung seiner Bestände vorhandene Archivportale wie Archivportal-d.de bzw. Findbuch.net sowie für den Urkundenbestand des Stadtarchivs die Plattform Monasterium. Voraussetzung sei dafür die wissenschaftliche Erschließung der Bestände, wofür in den zurückliegenden Jahren sehr viel getan wurde. Der angekündigte Vortrag zur Online-Präsentation der Gelegenheitsschriften Christian Weises aus dem Altbestand der Christian-Weise-Bibliothek Zittau entfiel krankheitsbedingt. In seinen Schlussworten dankte der Präsident den Referenten für ihre Wortbeiträge zu dieser gelungenen Tagung und bat um die Einreichung der Vorträge als Aufsätze für das Neue Lausitzische Magazin.

Dr. Steffen Menzel