Bericht zur Frühjahrstagung 2008 in Görlitz

Nahezu bis auf den letzten Platz gefüllt war der Johannes-Wüsten-Saal im Barockhaus Neißstraße 30, als Prof. Dr. Wolfgang Geierhos Mitglieder und Gäste zur Frühjahrstagung der OLGdW am Vormittag des 19. April in Görlitz willkommen hieß. Viele der Anwesenden waren schon am Abend zuvor der Einladung ins benachbarte Schlesische Museum im Schönhof gefolgt, um dem Eröffnungsvortrag von Prof. Dr. Hartmut Zwahr (Leipzig) beizuwohnen. Auf eindrückliche Weise ließ er die Ereignisse des "Prager Frühlings" von 1968 lebendig werden und vermittelte sehr persönliche und zugleich authentische Eindrücke der damaligen Situation, die sich vor dem Hintergrund des Kalten Krieges zur bedrohlichen politischen Krise zuspitzte. Prof. Zwahr trug aus seinen damals heimlich geführten und kürzlich erst veröffentlichten Tagebüchern vor und kommentierte die geschilderten Vorgänge und Hintergründe. Durch die belassene originale Diktion der Aufzeichnungen entstand während des Vortrags eine emotionale Nähe, die den Zuhörern etwas von der bedrückenden Stimmung wie verzweifelten Lage des Geschehens zu vermitteln vermochte.

Der Samstagvormittag war einigen Referaten von Mitgliedern der OLGdW vorbehalten. Zunächst sprach Dr. Jan Zdichynec (Prag) über die "konfessionelle Zeit in den oberlausitzischen Frauenklöstern" und führte Beispiele für die "Krise und Erneuerung des monastischen Lebens in der zweigläubigen Oberlausitz" an. Die religiösen Konflikte zwischen Katholiken und Lutheranern bedeuteten für jene durch die Reformation geschwächten Zisterzen St. Marienstern und St. Marienthal sowie das Laubaner Magdalenerinnenkloster eine Jahrzehnte währende Zerreißprobe. Zu den veränderten äußeren kirchenpolitischen Verhältnissen kamen innere strukturelle Probleme. Durch Visitationen und Maßregelungen versuchten das Domstift Bautzen und die Prager Erzbischöfe, der Auflösung klösterlicher Ordnung oder Ungehorsam entgegenzusteuern. Andererseits mussten sich die Äbtissinnen gegen Bevormundung und Eingriffe, die den Interessen ihrer Gemeinschaften zuwiderliefen, wehren oder sich auch mit der inzwischen mehrheitlich protestantischen Umgebung arrangieren.

Anschließend erörterte Dr. des. Danny Weber (Leipzig) die "Görlitzer Stadtfinanzen um 1800", dem es ein wichtiges Anliegen war, ein von der preußischen Historiographie tradiertes (Vor-)Urteil zurechtzurücken. Demnach wären der ökonomische Niedergang von Görlitz und die schlechte städtische Finanzlage durch die verfehlte und rücksichtslose Politik der sächsischen Kurfürst-Könige, namentlich im Siebenjährigen Krieg und in der Napoleonischen Ära, verschuldet worden und wären erst nach dem Wiener Kongress als Folge der preußischen Herrschaft gesundet. Tatsächlich aber hing der allmähliche Niedergang von Görlitz im 17. und 18. Jahrhundert von mehreren Faktoren ab:  neben Bränden und Kriegsauswirkungen mit dem Bedeutungsverlust der Tuchherstellung gegenüber der Leinenproduktion und dem damit verbundenen Aufschwung anderer Oberlausitzer Städte wie Zittau oder Lauban. Ungeachtet aller widrigen Umstände konnte Görlitz, wie D. Weber mittels Graphiken und Statistiken belegte, kontinuierlich eine kluge Finanz- und Tilgungspolitik zu führen, um die Schulden deutlich zu senken, und erhielt sich ihre Kreditwürdigkeit.

Prof. Dr. Karlheinz Blaschke (Friedewald) zeichnete das schließlich das "Bild der Sorben in der amtlichen Forschung von 1918 bis 1945" nach und fand deutliche Worte für die nationalsozialistische "Wendenpolitik", in die auch sächsische Hochschullehrer verstrickt waren. Als Ausgangspunkt und Anlass diente ihm dabei das 2007 erschienene Buch "Die ‚Wendenfrage’ in der deutschen Ostforschung 1933-1945" des Historikers Frank Förster, der als Deutscher von Geburt zu einem "bekennenden Sorben" wurde. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs unterstützten weithin anerkannte und angesehene Wissenschaftler den bürgerlichen Deutschtumskampf, der geistesgeschichtlich im 19. Jahrhundert wurzelte. In der Abwehr einer vermeintlichen "slawischen Gefahr" richtete er sich immer stärker gegen die Sorben und lief nach Prof. Blaschke auf die "Endlösung der Sorbenfrage" hinaus. Diskriminierung und eine tief sitzende Abneigung nationalbewusster Beamter gegenüber den Sorben waren nicht erst mit der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933, sondern bereits viel früher sichtbar und spürbar gewesen.

Erneut hatten junge Wissenschaftler Gelegenheit, im Rahmen des "Jungen Forums" ihre Forschungen vorzustellen und weitere Anregungen durch die Diskussion zu finden. Gerald Förster (Chemnitz) suchte Gemeinsamkeiten und Trennendes in der "Entwicklung des deutsch-slawischen Zusammenlebens in den Lausitzen, im Elbe-Saale-Gebiet und in Böhmen" zwischen dem 12. und frühen 15. Jahrhundert. Der Landesausbau sei grundsätzlich friedlich verlaufen und von wechselseitigen Assimilierungsprozessen begleitet worden. Ortsnamen, Flurbezeichnungen und Siedlungsstrukturen erlauben allgemeine, doch keine automatischen Rückschlüsse auf die Besiedelung. Ansiedlungen mit deutschem Namen konnten slawischen Ursprungs sein und umgekehrt, während es in den Gebirgsregionen Böhmens Waldhufendörfer gab, von Tschechen angelegt wurden.  G. Förster wies auf Archivalien wie Urbare, Zins- und Zehentregister, darunter jene in Neuzelle oder St. Marienstern, hin, die konkrete Angaben zur Bevölkerung, über Besitzgrößen beziehungsweise -verhältnisse enthalten. Dass das "Miteinander" der Volksgruppen mitunter eher einem "Gegen-" oder "Nebeneinander" glich, zeigte sich bei den Zünften, wo beispielsweise in Bautzen für Sorben ein Aufnahmeverbot bestand, reiche sorbische Kaufleute aber als Ratsleute fungierten. In einigen böhmischen Städten existierten eigene Zünfte für Deutsche und Tschechen, während Nationalitätenstreitigkeiten eher die Ausnahme gewesen sein sollen. G. Förster erläuterte anhand von Karten die Problematik der Zuweisung von Stadtgründungen nach bestehenden Stadtrechten und lehnte die These der Stadtbildung als eine rein deutsche Entwicklung ab, weil sich diese Tendenz analog bei den Tschechen zeigte.

Anja Zschornak (Leipzig/Kamenz) wählte das spätmittelalterliche Kamenz, um über das Verhältnis von "Stadt und Kirche in der Oberlausitz" zu sprechen. Sie setzte sich mit wesentlichen Aspekten urbaner Identität durch Frömmigkeit und Glauben auseinander, die sie in drei Gruppen gliederte. Dazu zählte sie die geistlichen Einrichtungen, also Kirchen und Klöstern der Stadt, ferner Bruderschaften, Prozessionen und Stiftungen, außerdem die  Geistlichkeit. Der Kamenzer Marienkirche als Versammlungsort der Stadtgemeinde zur jährlichen Wahl ihres Bürgermeisters kam eine besondere Identität stiftende Rolle zu, während der Rat als Initiator von Bitt- oder Bußprozessionen in Erscheinung trat, die von örtlichen Geistlichen begleitet wurden. Damit wurden die soziale Rangordnung der Bewohner und ihre ständische Hierarchie der urbanen Gesellschaft sinnfällig. Wirkte der Rat in seiner Funktion als treuhändischer Verwalter  des Stiftungsvermögens für Altäre und Seelenmessen auf das geistliche Leben, waren Konflikte zwischen Stadt und Kirche vorprogrammiert, was die Referentin  durch Archivalien wie den "klagenden Zeuspruch Eynes Erbarn Rathes der Stadt Camentzs wider den pfarrer doselbst" eindrucksvoll bezeugte.

Łukasz Tekiela (Lubań) beschäftigte sich mit der "operativen Bedeutung Zittaus während des Dreißigjährigen Krieges", die sich in der mehrmaligen Einbeziehung der Stadt in die kriegerischen Ereignisse jener Epoche zeigte. Die geographische Lage in der tektonischen Senkung zwischen Lausitzer und Isergebirge  als Verkehrsknoten zwischen Böhmen, Schlesien und Sachsen sowie der Verlauf der Neiße als Korridor in Nord-Süd-Richtung erwiesen sich als günstige Voraussetzungen für reibungslose Truppenbewegungen der verschiedenen Armeen, so dass Zittau wiederholt ins Visier der Militärs geriet. Die Herrschaft über Zittau war für den Schutz von Heeresflügeln oder den sicheren Durchmarsch und Rückzug von Truppen ausschlaggebend. Der Besitz dieser Stadt hatte Auswirkungen für die gesamte östliche Oberlausitz, die zusammen mit Schlesien aus strategischer Hinsicht ein einheitliches Gebiet darstellte. 

Der Nachmittag war der mit viel Spannung erwarteten Mitgliederversammlung vorbehalten, bei der neben den Rechenschaftsberichten des Präsidenten und des Schatzmeisters auch die turnusmäßige Wahl eines neuen Präsidiums anstand.

Den Höhepunkt bildete zuvor freilich die Verleihung der Ehrenpräsidentschaft an Prof. Karlheinz Blaschke. Sichtlich gerührt bedankte sich dieser für die Auszeichnung bei den Mitgliedern "auf dreierlei Art und Weise: mit Worten, Werken und Weisheiten." Prof. Blaschke fand vor allem "Worte" des Dankes und der Freude für diese Auszeichnung, nicht ohne den Hinweis, dass in Zeiten, in denen materielle Werte eine dominierende Rolle spielen, Worten nicht die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt werde. An "Werken" überreichte er dem Präsidium zwei kürzlich erschienene Publikationen: zum einen ein Sonderdruck seines Beitrages zur Geschichte der Oberlausitzer Landstände im 16. und 17. Jahrhundert, zum anderen ein 2006 veröffentlichter Tagungsband zur Stadtgeschichtsforschung, der seinen Beitrag zur Entstehung der Stadt Görlitz enthielt. Schließlich teilte Prof. Blaschke einige Gedanken zur Besonderheit des Landes Oberlausitz mit. So erinnerte er daran, dass die Oberlausitz Heimat des sorbischen Volkes sei, und warb dafür, die Sorben nicht als "Minderheit" mit seinem dem Wort anhaftenden negativen Beigeschmack anzusehen, sondern sie als Partner zu betrachten. Außerdem verwies er auf die großartigen Leistungen von Oberlausitzern, sei es in der Wirtschaft, in der Kultur oder der Wissenschaft. Er bezeichnete die Oberlausitz als einen Sonderfall in der Geschichte, in der diese Leistungen nicht durch eine zentralisierte Staatsverfassung hervorgebracht wurden, sondern mittels der Unterstützung der Stände umgesetzt werden konnten, und zwar "auf sanftere Art und Weise" als in manch anderem, zentralistisch geführtem Land. Besondere Bedeutung maß er der geographischen Lage der Oberlausitz in der Mitte Europas zu und insbesondere der ihr seit 1990 zugefallenen Rolle einer Brückenregion nach Ostmitteleuropa. Schließlich appellierte Prof. Blaschke an die Zuhörer, auf die historischen wie die heutigen Leistungen der Menschen in der Oberlausitz mit dem Werbespruch "Wir sind wer!" aufmerksam zu machen, um ein neues Selbstverständnis zu entwickeln.

Das neue Präsidium

Nach Ablauf der vierjährigen Amtsperiode des seit 2004 amtierenden Präsidiums wurde die anstehende Neuwahl mit Spannung erwartet, zumal mit dem Ausscheiden von drei langjährigen Mitgliedern und dem Tod des letzten Vizepräsidenten erhebliche Lücken zu schließen waren. Aus mehreren Kandidaten wurden Prof. Dr. Wolfgang Geierhos (Görlitz), Dr. Lars-Arne Dannenberg (Dresden), Steffen Menzel (Rothenburg), Dr. Volker Dähn (Görlitz), Ulrich Ebermann (Görlitz), Tino Fröde (Olbersdorf) und Grit Richter-Laugwitz (Bautzen) in das neue Präsidium gewählt. In seiner konstituierenden Sitzung bestimmte das neue Präsidium Prof. Dr. Geierhos erneut zum Präsidenten. Dr. Lars-Arne Dannenberg wird künftig die Aufgaben des Vizepräsidenten übernehmen, Steffen Menzel jene des Sekretärs, während Dr. Volker Dähn die Geschäfte des Schatzmeisters anvertraut wurden. Zum Schluss bedankte sich der Präsident für das Vertrauen und versprach eine offene und vertrauensvolle Zusammenarbeit. Er rief aber auch die Mitglieder auf, sich mit Ideen und regem Meinungsaustausch in die Gesellschaft einzubringen, um die Arbeit auf breite Schultern zu verteilen und die Ausstrahlung der Gesellschaft in die Region zu erweitern.

Mit einem Ausblick auf die Herbsttagung im November 2008 unter dem Thema "Lausitzer Archivlandschaften" in Bautzen schloss Prof. Geierhos die Versammlung.

Abgerundet wurde die Tagung am Sonntag mit einer Exkursion zu verschiedenen Zielen in Nordböhmen, wie die Loretto-Kapelle in Rumburk (Rumburg), der Laurentiuskirche in Jablonne v Podjestedi (Deutsch Gabel) und Schloss Lvova (Lämberg), unter der sachkundigen Führung von Dr. Andreas Bednarek.