Bericht zur Frühjahrstagung vom 22. und 23. April 2016 in Görlitz

Jan Bergmann, Dresden

Traditionell bildet die liebevoll restaurierte historische Altstadt von Görlitz die ehrwürdige Kulisse für die alljährliche Frühjahrstagung der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften e.V. Hier, am Untermarkt, befindet sich das 1804 von ihrem maßgeblichen Mitgründer Karl Gottlob von Anton (1751–1818) unserer Wissenschaftsgesellschaft zur Verfügung gestellte Stammhaus: das Barockhaus Neißstraße 30. Im Johannes-Wüsten-Saal des Hauses fanden sich auch in diesem Jahr wieder etwa sechzig Mitglieder und Gäste zusammen, um am 22. und 23. April die Beiträge der Tagung zu hören und sich an der Diskussion zu beteiligen.

Am frühen Freitagabend eröffnete der Präsident der OlGdW, Dr. Steffen Menzel, die Konferenz mit Grußworten an die Teilnehmer. Den gelungenen Auftakt zum Tagungsprogramm bot wieder der traditionelle Abendvortrag. In diesem Jahr stellte Prof. Dr. Anton Sterbling von der Hochschule der Sächsischen Polizei in Rothenburg/O.L. "Ausgewählte Aspekte der subjektiven Sicherheit im Landkreis Görlitz" vor. Grundlage seiner Ausführungen bildeten empirische Untersuchungen in der Region, die in den Jahren zwischen 1998 und 2014 in den Städten Hoyerswerda und Görlitz sowie im Landkreis Görlitz stattgefunden haben. Durch die in seinen Kernfragen identischen Fragebögen ließen sich nicht nur direkte Vergleiche in den urbanen Zentren der Oberlausitz erstellen, sondern auch Unterschiede und Analogien zum ländlichen Raum herausarbeiten. Dabei spielten allgemeine Fragen zur Zufriedenheit mit Verkehrsanbindungen, mit sozialer und kultureller Infrastruktur oder den Wohnverhältnissen eine ebenso wichtige Rolle, wie das persönliche Empfinden der öffentlichen Sicherheit, der Kriminalitätsfurcht oder mögliche Opfererfahrungen. Mit der nunmehr siebenten Erhebung im Jahr 2014 lassen sich inzwischen klare Entwicklungstendenzen im zeitlichen Verlauf erkennen, aus denen Anregungen und Vorschläge zur Verbesserung der Sicherheitslage ableitbar werden.

Der Tagungssamstag begann für die Teilnehmer um neun Uhr am Vormittag mit der Eröffnung durch den Präsidenten, der das Programm des Tages vorstellte. Im Anschluss richtete unser Mitglied Dr. Jasper von Richthofen, Direktor des Kulturhistorischen Museums, als Vertreter der Stadt Görlitz einige Grußworte an das Publikum und leitete zur anschließenden Verleihung des Hermann-Knothe-Preises des Jahres 2015 über. Er betonte dabei die Rolle des Wissenschaftspreises der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften als deutlichen Beweis für Vorhandensein einer lebendigen Forschungslandschaft Oberlausitz.

Mit seiner Laudatio würdigte Präsident Dr. Menzel im Anschluss die eingereichte Abhandlung der diesjährigen Preisträgerin Frau Dr. Lubina Mahling. Die aus Bautzen stammende und heute in Spitzkunnersdorf lebende Historikerin und Theologin hatte einen Aufsatz verfasst, in dem sie einen wichtigen Forschungsaspekt ihrer Dissertation über Friedrich Caspar Graf von Gersdorf (1699–1751) und die Sorben vertiefte. "Pietistische Bildung in der Lausitz Das Hallesche Waisenhaus als Vorbild von Lausitzer Schulanstalten und Waisenhäusern" lautete der Titel der ausgezeichneten Preisschrift. In ihrem Vortrag, der an die Preisverleihung anschloss, stellte Frau Dr. Mahling wesentliche Eckpunkte ihrer Arbeit vor. Ausgehend von der Darstellung der Schulstruktur der Franckeschen Stiftung in Halle erläuterte sie die Entstehungsgeschichte der pietistischen Schulen und Waisenhäuser in der Ober- und der Niederlausitz, die, angefangen 1699 in Bautzen, innerhalb eines halben Jahrhunderts hier errichtet worden waren. Die Dichte der Anstalten in der Region war mit nicht weniger als zwölf Häusern einmalig. Als maßgeblicher Initiator der Einrichtungen tat sich in der Lausitz vor allem der Adel hervor. Insbesondere der genannte Graf von Gersdorf, Amtshauptmann der Oberlausitz und Herr auf Uhyst/Spree und Klix, wurde von der Preisträgerin für ihre Untersuchung in den Blick genommen. Im Jahr 1737 hatte er das Klixer Seminar gegründet, das in erster Linie als pietistische Schulungsstätte für junge Theologen diente, die auf ein Pfarramt in den sorbischsprachigen Dörfern der Lausitz vorbereitet werden sollten. Aber auch Lehrer für Dorfschulen wurden hier ausgebildet. Ein besonderes Merkmal der zahlreichen kleinen Anstalten war die Herausgabe von pietistischen Publikationen, die über ein gemeinsames Netzwerk schnell verbreitet werden konnten.

1743 verlegte man die Klixer Anstalt nach Uhyst/Spree und änderte ihre Schulstruktur ab. Nun wurden Jungen und Mädchen, darunter auch wenige Adlige, aus der Region in einer Art Internat untergebracht und ausgebildet. Ein eigens errichteter, herrschaftlicher Schulbau, der heute als sanierungsbedürftige und weitgehend leerstehende Hülle einer besseren Zukunft harrt, beherbergte einst ca. 170 Schüler und das zugehörige Personal. 1756 wurde das Haus wieder geschlossen. Es war die Gemeinde, die sich aber 1784 dazu entschloss, die Schule wieder zu eröffnen. Einer ihrer bekanntesten Schüler war der spätere Standesherr, berühmte Gartengestalter und Schriftsteller Fürst Hermann von Pückler-Muskau (1785–1871).

Als Grund für die Häufung der pietistischen Anstalten in der Lausitz nach Halleschem Vorbild identifizierte die Preisträgerin die, aufgrund ihrer besonderen Verfassung vergleichsweise liberale Religionspolitik in den Markgraftümern. Sie gestattete es den Grundherren – dies waren in der Mehrzahl die adligen Rittergutsbesitzer –, selbst über konfessionelle Fragen in ihrem Einflussbereich zu befinden. Hinzu kam aber auch die besondere Grenzlage der Lausitzen als Faktor. Zahlreiche Religionsflüchtlinge aus Schlesien und Böhmen fanden hier eine neue Heimat und die Möglichkeit, ihren protestantischen Glauben auszuüben. Nicht wenige von ihnen fassten in den Dörfern und Kleinstädten pietistischer Grundherren Fuß. Der Pietismus hält letztlich einen großen Anteil am Entstehen der heutigen Bildungslandschaft Lausitz.

Nach der Verleihung des Hermann-Knothe-Preises und dem Referat der Preisträgerin stellte der Leiter der Oberlausitzischen Bibliothek der Wissenschaften zu Görlitz (OLB) und Sekretär unserer Gesellschaft, Matthias Wenzel, ein wichtiges aktuelles Erschließungsprojekt seines Hauses vor. "Gersdorf und Anton im Netz Sächsisches Landesdigitalisierungsprogramm ermöglicht Online-Zugang zu 1.200 Büchern und Handschriften der OLB" lautete der Titel seines Vortrages. Mit ihrer Teilnahme am Landesdigitalisierungsprogramm betrat die Görlitzer Bibliothek Neuland, denn bis 2015 hatte die OLB aus technischen, personellen und auch infrastrukturellen Gründen keine eigenen Digitalisierungsprojekte betreiben können. Die Initiatoren des Landesdigitalisierungsprogrammes wollten die „Digitalisierung in die Fläche bringen“. In der praktischen Umsetzung bedeutet dies die Bereitstellung finanzieller Mittel für die kleineren Bibliotheken des Freistaats, die nun unter Anleitung der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB) eigene Digitalisierungsprojekte umsetzen können. Die OLB ging diesen Schritt im Oktober des abgelaufenen Jahres 2015. Ziel ist es, die bisher noch nicht durch andere Initiativen (wie etwa durch das Unternehmen Google in Verbindung mit der Bayerischen Staatsbibliothek) andernorts digitalisierten, urheberrechtsfreien Lusatica zu scannen, digital aufzubereiten und schließlich im Internet zugänglich zu machen. Bereits in den wenigen Monaten bis Ablauf des Jahres 2015 konnten schon ca. 1.100 Bande digitalisiert werden. Da aber noch Kapazitäten frei waren, konnte das Projekt um einige Monate verlängert werden und so ein besonderes Schrifterbe auf gleichem Wege zugänglich gemacht werden: die Reisetagebücher und der Briefwechsel der Gründer unserer Gesellschaft Adolf Traugott von Gersdorff (1744–1807) und Karl Gottlob (von) Anton (1751–1818). Ab Mai 2016 sollen die Digitalisate der OLB über die „Digitalen Sammlungen“ der SLUB freigeschaltet werden.

Im Anschluss an den Vortrag von Matthias Wenzel erhielt der Numismatiker Lars-Gunter Schier aus Seifhennersdorf das Wort. Er erinnerte mit seinen Ausführungen zum heute verschollenen Wasserschlebenschen Münzkabinett zu Görlitz an die bemerkenswerten Wurzeln der numismatischen Forschungstradition in der Oberlausitz vor dem Zweiten Weltkrieg. 1908 hatte der Berliner Numismatiker mit familiären Wurzeln in Görlitz Ernst von Wasserschleben (1862–1908) letztwillentlich verfügt, dass die Neißestadt als seine Universalerbin auch seine herausragende Münzsammlung erhalten solle. Die Wasserschlebensche Sammlung zählte zu den größten ihrer Art in ganz Deutschland und enthielt zum Teil ausgesprochen wertvolle und seltene Stücke. Untergebracht war die Münzkollektion in der 1898 bis 1902 errichteten Oberlausitzer Gedenkhalle bzw. in dem dort eingerichteten Kaiser-Friedrich-Museum im östlich der Neiße gelegenen Stadtteil von Görlitz. Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde der Fluss zur neuen Staatsgrenze zwischen Deutschland und Polen. Auch die Oberlausitzer Gedenkhalle, heute Kulturhaus der Stadt Zgorzelec, fiel damit an Polen. Noch während des Krieges hatten Museumsmitarbeiter die Wasserschlebensche Münzsammlung zusammen mit anderen Gegenständen unter der Haupttreppe des Gebäudes eingemauert. Jedoch wurde das Depot bald nach Kriegsende gefunden. Seit dem gilt die Sammlung als verschollen, wenngleich die Fachwelt dennoch die Hoffnung hegt, die heutigen Verwahrorte von Teilen der Sammlung mit der Zeit ermitteln zu können.

Ganz ohne Münzen war die an den Vortrag von Herrn Schier anschließende Kaffeepause zu bestreiten. In bewährter Weise hatten die Organisatoren der Tagung wieder für Erfrischungen und Gebäck gesorgt.

Etwa um elf Uhr begann der Vortrag von Herrn Prof. Dr. Heyo E. Hamer über Adolf zur Lippe (1812–1888), einen Pionier der Homöopathie. Da Prof. Hamer leider verhindert war, wurde sein Vortrag dankenswerterweise von unserem Präsidiumsmitglied Kai Wenzel verlesen. Adolf Graf und Edler Herr zur Lippe-Biesterfeld-Weißenfeld wurde in See bei Niesky als ältester Sohn des dortigen Rittergutsbesitzers Ludwig Graf und Edler Herr zur Lippe-Biesterfeld-Weißenfeld (1781–1860) und seiner Frau Eleonore Auguste, geb. Gräfin von Hohenthal (1795–1856), geboren. Seine pietistischen Eltern, zu denen sein Verhältnis von Kindheit an äußerst schwierig war, ließen ihn in einem Pädagogium der Herrnhuter erziehen. Als junger Erwachsener ging er nach Berlin, um ein Jurastudium zu beginnen. Dieses brach er jedoch ab, um ein Medizinstudium zu beginnen. Sein Lebenswandel und die eigenmächtige Änderung seines Ausbildungswegs ließen den Konflikt zwischen Vater und Sohn immer wieder offen ausbrechen. Adolf zur Lippe verstand es, zu provozieren. Sein tiefgläubiger Vater hatte ihn einst vom Militärdienst befreien lassen. 1830/31 bezog Adolf jedoch aus eigenem Antrieb die Dresdner Militärakademie.Doch auch diese Ausbildung brach er wieder ab. Zwischen 1831 und 1836 befand er sich auf steter Flucht vor seinen Gläubigern und den Wachdiensten. 14. Mal soll er in dieser Zeit im Gefängnis gesessen haben. 1836 kehrte er mittellos und ohne abgeschlossene Ausbildung in das Elternhaus zurück. Sein Vater, der ihn enterbt hatte, begegnete ihm wiederholt mit Gewalt. Und so reifte in Adolf zur Lippe der Wille auszuwandern. Mit Hilfe seiner Herrnhuter Freunde gelang ihm das auch. Er erhielt eine Stelle als Schiffsarzt und setzte so nach Amerika über. In den USA wurde er auch von Herrnhutern aufgenommen. Nachdem er die Idee zur Gründung eines eigenen landwirtschaftlichen Betriebes namens „New See“ wieder fallengelassen hatte, begann er eine Ausbildung zum Homöopathen und durchlief nun eine beeindruckende Karriere. 1865 berief man ihn bereits zum Fakultätspräsidenten. Prof. Dr. med. Adolf zur Lippe eröffnete schließlich in Philadelphia eine eigene homöopathische Praxis. Adolf zur Lippe und sein Vater waren beide als Herrnhuter erzogen worden. Diese Erziehung brachte aber bei beiden sehr unterschiedliche Charaktereigenschaften hervor, die sie voneinander entfremdeten und ihr Verhältnis zueinander zerstörten. Während der Vater eine gefühlskalte Selbstdisziplin zu seiner Lebensmaxime erklärt hatte, hatte der Sohn den neugierigen Drang in die Welt verinnerlicht.

Dr. Carsten Krautz, der für seinen entschuldigten Kollegen Dr. Mathias Ullmann kurzfristig eingesprungen war, schloss mit seinem Bericht über die Arbeit der 2003 gegründeten Ehrenfried Walther von Tschirnhaus-Gesellschaft an den Vortrag über Adolf zur Lippe an. Der Referent gab einen weiten Überblick über die zahlreichen Projekte und Erfolge der Tschirnhaus-Gesellschaft, aber auch über Rückschläge, die zwar einige Vorhaben, nicht aber den Willen ihrer Mitglieder ausbremsten. Am Schluss konnte Herr Dr. Krautz jedoch ein positives Fazit ziehen, indem er auf zahlreiche Ideen und Projekte mit Zukunftspotential verwies.

Bevor es in die wohlverdiente Mittagspause ging, folgte noch das inzwischen traditionsreiche Junge Forum, dass die Oberlausitzische Gesellschaft der Wissenschaften anlässlich jeder Frühjahrstagung anbietet, im Tagungsprogramm. In diesem Jahr stellte Dipl.-Ing. Arch. Andrzej Bruno Kutiak sein Dissertationsprojekt zur Architekturgeschichte frühneuzeitlicher Herrenhäuser in der Ostoberlausitz, das der junge Forscher aus Polen zurzeit in München betreibt, vor. Die Herrenhäuser und Schlösser in der Ostoberlausitz gehören zu den bisher wohl am stärksten in der Forschung vernachlässigten Anlagen ihrer Art in diesem Teil Europas. Der Referent betritt mit seiner Untersuchung hier weitgehend Neuland, profitiert aber bereits von der Vorarbeit, die zwei unserer Mitglieder vor wenigen Jahren geleistet haben: Dr. Lars-Arne Dannenberg und Dr. Matthias Donath hatten bereits 2011 mit dem Band „Schlösser in der polnischen Oberlausitz“ ein erstes umfassendes Überblickswerk zur einstigen herrschaftlichen Wohnkultur im polnisch gewordenen Teil der Oberlausitz vorgelegt.     

Damit war der Vortragsteil der diesjährigen Frühjahrstagung nach einem erkenntnisreichen Freitagabend und Sonnabendvormittag abgeschlossen. Nach der Mittagspause, die alle Tagungsteilnehmer individuell nutzen konnten, eröffnete unser Präsident Dr. Steffen Menzel am Nachmittag um 14 Uhr die obligatorische, nichtöffentliche Mitgliederversammlung. Und um 16 Uhr bot sich schließlich für die noch Anwesenden die Gelegenheit einer Ausstellungsbesichtigung im Schlesischen Museum am Görlitzer Untermarkt. Die Ausstellungsmacherin Frau Dr. Martina Pietsch führte die Gäste persönlich durch die Sonderschau "Die große Not. Erinnerungen an Kriegsende und Nachkriegszeit" – einer Objektpräsentation, die mit dem großen Engagement zahlreicher privater und institutioneller Leihgeber aus Görlitz und Umgebung zusammengestellt werden konnte und noch bis zum 24. Juli 2016 im Schlesischen Museum zu sehen ist.