Bericht zur Frühjahrstagung am 12. April 2014 in Görlitz

Arnold Klaffenböck, Salzburg

Bedingt durch die kalendarische Überschneidung mit dem Osterfest, hielt die Oberlausitzische Gesellschaft der Wissenschaften (OLGdW) ihre Frühjahrstagung eine Woche früher ab als gewöhnlich. Nichtsdestotrotz waren viele Mitglieder und Interessierte der Einladung des Präsidiums nach Görlitz in den Johannes-Wüsten-Saal des Kulturhistorischen Museums gefolgt, um den vielfältigen Vorträgen zu lauschen bzw. im Anschluss an das Symposion an der traditionellen Mitgliederversammlung teilzunehmen.

Zunächst begrüßte Dr. Steffen Menzel als Präsident der OLGdW die von nah und fern angereisten Gäste. In seiner Eröffnungsrede zeigte er seine Freude darüber, dass es gelungen sei, nunmehr zum fünften Mal den Hermann-Knothe-Preis zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses zu verleihen. Aus den thematisch breit gestreuten fünf Einreichungen, welche eindrucksvoll die inzwischen bestehende Relevanz und Akzeptanz des Preises bestätigen würden, habe die Jury schließlich die Arbeit des gebürtigen Greifswalders Thomas Hardke für preiswürdig befunden. Dessen tiefgründige Untersuchung setzt sich mit dem gesellschaftspolitischen, sozialen und biografischen Bedingungsgefüge auseinander, in dem sich die evangelische Kirchgemeinde bzw. die Pfarrer Zittaus während des Dritten Reiches bewegten. Stellvertretend für den Görlitzer Oberbürgermeister Siegfried Deinege sprach Kulturbürgermeister Dr. Michael Wieler zu den Anwesenden und drückte seine Wertschätzung für die wissenschaftliche Arbeit der OLGdW aus. Mit Bezug auf den Knothe-Preisträger würdigte Dr. Wieler die Offenheit und Sensibilität, die Th. Hardke diesem nach wie vor heiklen und tabuisierten Thema entgegengebracht habe. Er hob die Bedeutung dieser Arbeit hervor, sei sie doch eine Art Schnittstelle, wo sich Wissenschaft und Gesellschaft träfen, um zum Nachdenken und Nacherleben angeregt zu werden.

Daran anschließend folgte das Referat des Lehrers und Theologen Thomas Hardke, der in seiner Untersuchung relevante Prozesse, Ereignisse und Konstellationen in Bezug auf die evangelische Kirche Zittaus zwischen 193 und 1945 nachzeichnete und kritisch auswertete. Die Geschichte der evangelischen Kirche im Dritten Reich sei, so Th. Hardke, lange Zeit sehr apologetisch als Geschichte eines Kirchenkampfes betrachtet worden, in der die Spaltung in bzw. die Opposition zwischen Deutscher und Bekennender Kirche im Fokus gestanden hätte. In den letzten 20 Jahren aber sei diese Auffassung einer differenzierteren sozialgeschichtlichen Auffassung gewichen. Anhand seiner mikrohistorischen Untersuchung konnte Th. Hardke am Beispiel Zittaus nachweisen, dass in dieser Oberlausitzer Stadt nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten recht schnell eine „Selbstnazifizierung“ der Gemeinde erfolgte und aus eigenem Antrieb NS-Elemente integriert wurden. Diese Maßnahmen wurden von den Pfarrern mitgetragen, auch von jenen, die später Anhänger der Bekennenden Kirche werden sollten. Die Auseinandersetzungen zwischen Deutscher und Bekennender Kirche prägten Leben und Alltag der evangelischen Kirchengemeinde Zittaus, sie verliefen allerdings weniger unter den Zittauer Pfarrern, sondern manifestierten sich eher im behördlichen Umgang mit Konsistorien und der Landeskirche. Exemplarisch konnte Th. Hardtke zeigen, dass sich kirchenpolitische Ereignisse auf Reichsebene nicht zwangsläufig auch auf die Zittauer Gemeindeebene niederschlugen. Ungeachtet ihrer Zugehörigkeit zu den rivalisierenden Fraktionen trugen die evangelischen Zittauer Pfarrer beider kirchenpolitischer Lager etwa Repressionen gegen nicht-arische Gemeindemitglieder mit.

Mit regem Interesse verfolgten die Teilnehmer der Tagung dann die Präsentation des neu erschienenen „Sorbischen Kulturlexikons“, welches das Sorbische Institut in Bautzen gemeinsam mit dem Domowina-Verlag verwirklicht hat. Franz Schön, neben Prof. Dr. Dietrich Scholze einer der beiden Herausgeber des inhaltlich wie vom Umfang her gewichtigen Buches, skizzierte die jahrzehntelangen Bemühungen und Vorarbeiten, die der Realisierung dieses Standardwerkes vorausgingen. Die Ausführungen machten rasch deutlich, dass mehrere Anläufe, sehr viel Geduld und ein langer Atem erforderlich waren, um überhaupt dieses Buch aus der Taufe heben zu können. Bestrebungen, eine sorabistische Enzyklopädie zu erstellen, reichen zurück bis in die 1930er-Jahre. Obwohl sich diesbezüglich rege Forschungstätigkeit entfaltete – insbesondere durch Lehrer und Geistliche, die sich nebenberuflich mit der Wissenschaft beschäftigten –, deren Erkenntnisse in sorabistischen Publikationen unterschiedlichster Art einflossen, blieb das Lexikon selbst aber vorerst ein Desiderat. 1992 wurde bei einer wissenschaftlichen Konferenz, die sich u. a. mit künftigen Aufgaben der Sorabistik beschäftigte, die Idee geboren, ein dreibändiges sorabistisches Lexikon zu schaffen. Einem Vorschlag F. Schöns folgend, wurde schließlich ein einbändiges Kompendium für die interessierte deutschsprachige Öffentlichkeit umgesetzt. An der Präsentation des Buches während der Frühjahrstagung der OLGdW beteiligt war auch der Lektor des „Sorbischen Kulturlexikons“ Michał Nuk, der das gediegene und reich illustrierte Nachschlagewerk am Büchertisch zum Erwerb anbot. (Eine ausführlichere Rezension des „Sorbischen Kulturlexikons“ erscheint in der nächsten Ausgabe des „Neuen Lausitzischen Magazins“.)

Als nächster Redner bestritt Dr. Jens Bulisch (Crostwitz) das Programm. In seinem durch Anekdoten kurzweiligen Vortrag spürte er facettenreich dem überaus komplizierten Verhältnis Sachsens zu den europäischen (Groß-)Mächten sowie den nicht minder komplexen dynastischen Verflechtungen der Wettiner mit den verwandten Herrschaftshäusern nach, die allesamt um die Hegemonie in Europa stritten. Den Mittelpunkt und gleichsam den roten Faden des Vortrags bildete dabei die bis heute schillernde und mit Vorurteilen behaftete Figur des Diplomaten Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord (1754–1838). Der einstige Außenminister Napoleons wusste die Pattstellung der beim Wiener Kongress verhandelnden Siegermächte für eigene Interessen auszunützen und die brisante Frage um die politische Zukunft Sachsens so zu instrumentalisieren, dass sie unweigerlich zum Brennpunkt der Neuordnung Europas im Sinne einer Gleichgewichtspolitik wurde. Daran anschließend bot sich angehenden Wissenschaftlern wiederum Gelegenheit, im Rahmen des „Jungen Forums“ laufende Projekte vorzustellen und Einblicke in ihre Arbeiten zu geben.

Sven Brajer, aus der südöstlichen Oberlausitz stammend, schilderte detailreich den Übergang der größten Oberlausitzer Sechsstadt Görlitz an Preußen am 3. August 1815. Das Ereignis fiel nicht zufällig mit dem 45. Geburtstag von König Friedrich Wilhelm III., dem neuen Landesherrn, zusammen. Der Festakt auf dem Obermarkt bzw. die feierlich inszenierte Erbhuldigung erfolgte vor einem ephemeren Tempel mit der Büste des Herrschers – die Legitimierung und Initiation des neuen Regenten sollten von der versammelten Bevölkerung direkt und symbolisch erfahren, die Preußischwerdung der Stadt optisch sinnfällig werden. S. Brajer zeigte auf, wie vielschichtig sich der Übergang an Preußen vollzog und wie folgenreich er für die Kommune war. Neben dem Austausch der Herrschaftssymbole im öffentlich-urbanen Raum, der Übernahme der preußischen Farben in Gestalt der Nationalkokarde drückte sich der Herrscher- und Länderwechsel bald im Stadtbild und Alltagsleben aus. 1830 wurde Görlitz aufgrund der Grenznähe zu Sachsen bzw. Österreich preußische Garnisonstadt. Beim Wechsel an Preußen traten Interessenkonflikte zutage, etwa als sich zwischen der Kreisregierung in Liegnitz und dem Görlitzer Magistrat ein Disput um das Schleifen der Stadtbefestigungen entspann. Während der übergeordneten niederschlesischen Behörde die strategisch-militärische Bedeutung von Görlitz als Festung wichtigstes Anliegen war, lag den Stadtverantwortlichen eher die wirtschaftliche und bauliche Entfaltung der Stadt am Herzen. Die Veränderungen zeigten sich im Besonderen auch bei der Beamtenschaft, wo in leitenden Positionen der Austausch bzw. Versetzungen erfolgten, auf unterer und mittlerer Ebene die Beamten großteils übernommen und integriert wurden. S. Brajer umriss auch die Ära des ersten Görlitzer Oberbürgermeisters Gottlob Ludwig Demiani, einem Dresdner, unter dem die Stadt einen industriellen Aufschwung nahm. Dabei konnte sie die Folgen des Siebenjährigen Krieges sowie der Napoleonischen Kriege überwinden und es wurden die Weichen gestellt für die Prosperität der Stadt im 19. Jahrhundert. Rückblickend betrachtet und langfristig gesehen sei der Übergang der Stadt Görlitz an Preußen, so die These, zumindest partiell, etwa in wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht, durchaus eine „Erfolgsgeschichte“ gewesen.

Zuletzt brachte Stefan Kühn (Dresden), Diplomingenieur für Kartografie, Möglichkeiten und Methoden des Internetlexikons „Wikipedia“ im Kontext von regionalgeschichtlicher Forschung den Zuhörern näher. Am Beispiel der Oberlausitz sprach er über Gestaltungsformen für bestimmte Themenportale, die von Redaktionsteams erstellt und betreut würden. St. Kühns Vortrag erwies sich als sehr praxisorientiert: Anhand von Daten, welche die Oberlausitzische Bibliothek der Wissenschaften vorbereitet hatte, wurde der Versuch unternommen, einen biografischen Musterartikel zu Karl Gottlob von Anton, einem der Begründer der OLGdW, zu gestalten und dabei das vorab vermittelte theoretische Wissen anzuwenden.