Bericht zur Herbsttagung 2009 in Zittau "Bildung und Gelehrsamkeit in der frühneuzeitlichen Oberlausitz"

von Dr. Arnold Klaffenböck, Strobl

Unter dem Motto "Bildung und Gelehrsamkeit in der frühneuzeitlichen Oberlausitz" lud die OLGdW zu ihrer diesjährigen Herbsttagung nach Zittau ein. In mehreren Vorträgen breiteten Referenten aus dem In- und Ausland unterschiedlichste Facetten zur "Bildungslandschaft Oberlausitz" vor einem zahlreich erschienenen Publikum aus. Die Tagung wurde gemeinsam mit den Städtischen Museen Zittau veranstaltet und korrespondierte mit der im Heffterbau des ehemaligen Franziskanerklosters gezeigten Ausstellung "Weises Geschenk. Gelehrsamkeit, Unterhaltung und Repräsentation im barocken Zittau" zum 300-jährige Bestehen des Ratsbibliotheksaales und der aus Originalbeständen dort wieder eingerichteten Wunderkammer.

Am Nachmittag des 6. November gewährte Dipl.-Bibl. Uwe Kahl in den Räumlichkeiten des Altbestandes der Christian-Weise-Bibliothek in der Lisa-Tetzner-Straße zunächst Einblick in die bewegte Geschichte dieser bedeutenden Büchersammlung, deren Anfänge in die Mitte des 16. Jh. zurückführen. Das Schicksal der aus dem Geist der Reformation entstandenen Bibliothek ist mit jenem Zittaus und seines Museums untrennbar verbunden. Trotz mehrfacher Bedrohung und erheblicher Verluste blieben ihre Bestände im Wesentlichen bis heute erhalten. Die Besucher erhielten die Möglichkeit, einige ausgewählte bibliophile Schätze in Augenschein zu nehmen, darunter kostbare Missalien des Spätmittelalters, eine Ausgabe der Schedelschen Weltchronik oder Schriften des Rektors des Zittauer Gymnasiums, Christian Weise. 

In seiner Eröffnungsrede der Tagung im Zittauer Salzhaus zeichnete Dr. Steffen Menzel, Präsident der OLGdW, unter Zitierung eines Positionspapiers der sog. "Geisteswissenschaftlichen Initiative" ein düsteres Bild von der gegenwärtigen Bildungslage in der Oberlausitz, die angeblich nur mehr als "drittklassig" zu bezeichnen sei. An derartigen Behauptungen werde die Aktualität und Brisanz des Themas Bildung ersichtlich. Der Bildungsauftrag, den Gesellschaft und Politik zu erfüllen hätten, sei ein dringendes Gebot der Stunde. Es sei daher wichtig, die hiesigen Bildungstraditionen wieder ins Bewusstsein zu rufen und an sie anzuknüpfen. Dr. des. Marius Winzeler, Direktor der Städtischen Museen und Mitorganisator der Tagung, überbrachte Grußworte des Zittauer Oberbürgermeisters Arnd Vogt, der darin nicht zuletzt auf die frühere Bedeutung Zittaus hinsichtlich von Bildung und Schulwesen hinwies.

Den Abendvortrag im voll besetzten Saal des Salzhauses hielt Dr. Uwe Koch (Potsdam), der anhand der 2007 wieder ins Leben gerufenen Dr.-Gregorius-Mättig-Stiftung in Bautzen über Bildungsförderung am Beispiel der Mättig-Stipendiaten sprach. Der Bautzener Arzt, Jurist, Kommunalpolitiker und Mäzen Gregorius Mättig (1585-1650), ein Neffe des Humanisten und Universalgelehrten Caspar Peucer (1525-1602), hatte testamentarisch mehrere Stiftungen zur Förderung der Bildung der heimischen Jugend und deren Versorgung verfügt. Nicht zuletzt durch finanziellen Weitblick bei der Dotierung seines großzügigen Vermächtnisses konnten bis zur staatlich verordneten Aufhebung 1949 mehr als 1000 Mättigianer von den Zuwendungen profitieren.

Nach einer kurzen Einleitung in Wort und Bild, wo allgemeine Überlegungen zu den Aufgaben der Wissensvermittlung bzw. des Wissenstransfers sowie zu Bildungsstätten der Gymnasien und Lyzeen angestellt wurden, Im Anschluss wurde der Vortrag "Bildungslandschaften im Alten Reich" von Prof. Dr. Winfried Müller (TU Dresden) verlesen, dem die Teilnahme an der Tagung krankheitshalber verwehrt geblieben war. Die Anfänge des modernen Bildungswesens seien an der Schwelle vom 15. zum 16. Jh. zu suchen, als im Zuge der Reformation das Ausbildungsprivileg der Dom- und Klosterschulen zunehmend in die Hand der Kommunen überging. Die Städte hielten am Lateinschulwesen mit Latein als Unterrichtssprache fest, weil dieses System als Grundlage und Vorbereitung der Schüler für die Universität angesehen wurde. Der Trend, an regionalen Hochschulen zu studieren, setzte schon vor der Reformation ein und wurde von ihr noch verstärkt. Durch den Wegfall der Dom- und Klosterschulen war das Bildungssystem durch die reformatorischen Veränderungen in einem Lebensnerv getroffen worden. Es herrschte ein Mangel an entsprechend ausgebildeten Persönlichkeiten, die den Aufbau einer neuen evangelischen Kirchenordnung organisieren konnten. Die Reformation löste eine intensive Pädagogisierung aller Lebensbereiche aus, die Bildungseinrichtungen wechselten von privater und kooperativer in staatliche und kommunale Hand über. Schul- und Bildungspolitik wurden fortan als Aufgabe und Anliegen der Territorialmächte verstanden. Diese Gesinnung schlug sich in der Entwicklung der Bildungslandschaft im Deutschen Reich nieder, wobei die jeweilige konfessionskulturelle Prägung maßgeblich wurde - so auch in der Oberlausitz, wo mit dem Fehlen einer eigenen Landesuniversität den Gymnasien und Lyzeen in den Sechsstädten eine Art Ersatzfunktion für die nicht existierende Hochschule zukam und von ihnen Bildungsaufgaben übernommen wurden.

Dr. Martin Holý, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Tschechischen Akademie der Wissenschaften in Prag, spannte den von Prof. Müller gezogenen Faden thematisch weiter und beschäftigte sich mit Beziehungen zwischen dem Gymnasium in Görlitz seit seiner Gründung 1565 und Böhmen bis zum Jahr 1620. Das aus dem säkularisierten Franziskanerkloster hervorgegangene Görlitzer Gymnasium entstand unter dem Einfluss des Reformationshumanismus. Anfangs in fünf, dann in sechs Klassen gegliedert, bereitete es Schüler für ein weiterführendes Studium vor. Anhand von Zahlen und Beispielen belegte Holý, dass die Absolventen des Görlitzer Gymnasiums in jener Zeit zu einem Gutteil aus dem benachbarten Böhmen stammten. Zwischen 1580 und 1620 etwa lassen sich 242 böhmische Landeskinder nachweisen, darunter 70 als Angehörige der Nobilität, während die Übrigen aus städtischem Bürgertum kamen. Der Besuch des Görlitzer Gymnasiums durch Schüler böhmischer Herkunft hing nicht zuletzt von der schwankenden Attraktivität weiterer Gymnasien der Oberlausitz bzw. anderen Nebenländern der Krone Böhmen zusammen. Der Lebens- und Bildungsalltag der Böhmen in Görlitz lasse sich bloß fragmentarisch erschließen. Durch Schulordnungen werde der Inhalt, aber auch das Aussehen der Ausbildung ersichtlich, freilich mit der Einschränkung, dass es sich dabei um pädagogische Idealbilder handele. Die Wahl des Görlitzer Gymnasiums als Bildungsstätte durch böhmische Landeskinder war zweifellos von beiderseitigem Nutzen. Görlitzer Bürger beherbergten adelige Schüler in ihren Häusern, darüber hinaus konnten sie etwa als Erzieher  außerhalb der Stadt Arbeit finden. Die Entscheidung der Schüler aus Böhmen, nach Görlitz zu gehen, um dort eine Ausbildung zu absolvieren, machte Holý von mehreren Faktoren abhängig. Neben persönlichen Gründen und der Qualität des Unterrichts am hiesigen Gymnasium dürften die geographische Nähe der Stadt, ihre systematischen Kontakte zum böhmischen Milieu sowie das gemäßigte konfessionelle Klima in Görlitz eine entscheidende Rolle gespielt haben.

Den Bildungschancen der sorbischen Bevölkerung der Oberlausitz im Zusammenhang mit sprachlichen und kulturellen Eigenheiten ging Dr. Peter Kunze (Bautzen) in seinem Vortrag nach, der versuchte, die "Entwicklung des sorbischen Schulwesens von den Anfängen bis zum Ende der frühen Neuzeit" nachzuzeichnen. Die Anfänge des sorbischen Elementarschulwesens an der Wende vom 15. zum 16. Jh. habe zunächst im "privaten Unterricht" durch den Kirchendiener bestanden. In diesen später als "Kirchenschulen" bezeichneten einfachen Einrichtungen konnten aber Lesen und Schreiben mangels gedruckter Bücher nicht vermittelt werden. Der heiklen Frage nach der Unterrichtssprache im sorbischen Gebiet wichen die Oberlausitzer Stände lange aus, ehe sie sich auf einen Kompromiss einigten: In den rein sorbischen Gebieten sollte auf Sorbisch, in den Randgebieten in Deutsch unterrichtet werden. Die Kirchenordnung von 1690 legte fest, dass der Katechismus in deutscher und sorbischer Sprache unterrichtet werden musste. Erst durch die Einführung einer "wendischen Schreib- und Leselehre" 1689 sowie die Verbreitung von Büchern und Schriften seit dem letzten Drittel des 17. Jh. nahm das sorbische Elementarschulwesen einen Aufschwung. Im Zuge der Aufklärung, die eine verbesserte Schulbildung der Untertanen forderte, und der in der Oberlausitz besonders wirksamen Strömung des Pietismus, der die Menschen zu wahrer Herzensfrömmigkeit erziehen wollte, wurden Institute zur Ausbildung von Pfarrern und Lehrern gegründet, darunter 1737 die Schulanstalt von Klix, die später nach Uhyst/Spree und Niesky verlegt wurde, oder 1746 jene von Großwelka. Sorbische Kinder sollten hier die Möglichkeit zum Erwerb der deutschen Sprache finden, um so ihre berufliche Karriere zu befördern. Diese Institutionen, die Seminaren ähnelten, sollten das geistig-moralische Niveau heben, vor allem aber Lehrer hervorbringen, die eine gute Allgemeinbildung besaßen und mit modernen Lehrmethoden vertraut waren, um ihrerseits wieder sorbische Kinder in ihrer Muttersprache zu unterrichten. Erst 1770 erließen die Stände der Oberlausitz eine Schulordnung, die allerdings geringe Resonanz für die Praxis hatte. Der Forderung, Lehrerseminare zu gründen, wurde erst spät, 1817 mit der Gründung des Landständischen Seminars in Bautzen, entsprochen. Bis 1835 sollte es dauern, ehe zum ersten Mal minimaler gesetzlicher Schutz für den Gebrauch der sorbischen Sprache im Unterricht verwirklicht werden konnte.

Günther Rautenstrauch, M. A. (Weimar) setzte sich mit dem Zittauer Gelehrten, Rektor des Zittauer Gymnasiums und Leiters der Ratsbibliothek Christian Weise (1642-1708) auseinander. Dabei skizzierte er ein eindrückliches Altersporträt Weises, den er als weltläufigen Mann mit einem gewissen aristokratischen Flair charakterisierte, der bis zu seinem Tod von seinem "Nestchen Zittau" aus Kontakt mit der Außenwelt aufrechterhält. An das faszinierende Lebensbild knüpfte G. Rautenstrauch "Gedanken über Pädagogisches und Allzumenschliches an einer Zeitenwende", die mit dem nachweislich letzten öffentlichen Auftritt Weises in Verbindung standen. In einer Gedenkrede am 31. Mai 1708 stellte Weise nämlich die Frage, ob Menschen, die an einer Schule lehren, unglücklicher wären als andere, was er nach tief greifender Argumentation und exemplarischer Erläuterung verneint. G. Rautenstrauch, bewertete diese "Parentation" für den Gutsherrn Melchior Caspar Winckler als "Weises letztes Vermächtnis". Der Reformpädagoge habe Nützlichkeit im umfassenden Sinne - nämlich für die Allgemeinheit, und nicht Eigennutz - gefordert und darüber hinaus Schule und Öffentlichkeit stets in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit begriffen. In der Rede nimmt Weise die verbreitete Klage der Lehrenden, in einer unablässigen Tretmühle gefangen zu sein, auf und zeigt die Relativität menschlichen Glücklichseins im Spannungsfeld von Selbst- und Fremdwahrnehmung. 

Philine Brandt (Mittelherwigsdorf) schließlich stellte eine Schulordnung des Zittauer Katecheten Martin Grünwald (1664-1716) vor und gewährte interessante Einblicke in die Geschichte des Volksschulwesens in der Oberlausitz des frühen 18. Jh. Grünwald, während seiner Zittauer Gymnasialzeit angeblich ein Lieblingsschüler Christian Weises, trat nach seinem Studium in Leipzig 1690 seine erste Stelle als Konrektor der evangelischen Schule zu Bautzen an. Neun Jahre später übersiedelte er mit seiner Familie nach Zittau. Nach dem Vorbild August Hermann Franckes in Halle/Saale, allerdings unter städtischer Patronanz stehend, gründete er hier 1701 ein Waisenhaus. Diese karitative Einrichtung war ein wesentlicher Beitrag, um die herrschenden sozialen Übelstände im Gefolge des 30-jährigen Krieges in Zittau zu überwinden. P. Brandt machte deutlich, dass Zittau aufgrund dieser Stiftung zusammen mit Lauban und dem niederschlesischen Bunzlau die östlichsten Exponenten der Francke’schen Ausstrahlungen gewesen sein dürfte. Wenige Jahre nach der Gründung des Waisenhauses erstellte Grünwald im Auftrag des Stadtrates die 15-seitige "Zittauische teutsche Schulordnung" als schulpädagogisches Regelwerk, worin Angelegenheiten des Schulhalters, der Schulpflicht oder der Zucht genau festgelegt wurden. 

Der Nachmittag bot Gelegenheit, unter fachkundiger Führung von Dr. des. Marius Winzeler Zittaus Bildungsstätten von einst und jetzt zu besichtigen. Die Exkursion führte in die Aula des Johanneums mit dem eindruckvollen Monumentalgemälde "Paulus predigt in Athen" des Historienmalers Anton Dietrich (1833-1904). Von dort führte der Spaziergang weiter zum nahe gelegenen Alten Gymnasium, der Wirkungsstätte Christian Weises. Bei der Besichtigung der Innenräume erläuterte Dr. Thorsten Pietschmann (Lückendorf) das Bildprogramm einer barocken Plafondmalerei im Westflügel. Den krönenden Höhepunkt und Abschluss bildete schließlich die auf zwei Stockwerke des Heffterbaus verteilte Ausstellung "Weises Geschenk". Während U. Kahl im Erdgeschoss Persönlichkeiten und die städtebauliche Entwicklung des barocken Zittau, das im Augusteischen Zeitalter über eine prosperierende Wirtschaft und kulturelle Blüte verfügte, vorstellte, erläuterte M. Winzeler im Saal der einstigen Ratsbibliothek und Wunderkammer die Entstehungsgeschichte der Zittauer Sammlungen und des Prunkraumes. Dabei ging er auch auf das hintersinnige ikonographische Programm der Deckenmalereien Nikolaus Prescher ein, welche Pandora vor der olympischen Götterversammlung zeigen. Viele bemerkenswerte Aspekte ließen sich bei der Exkursion freilich nur andeuten, die in mehreren Aufsätzen des 40. Bandes der "Zittauer Geschichtsblätter", der reich illustrierten Begleitpublikation zu dieser Ausstellung, näher ausgeführt werden.

Die Tagung offenbarte eindrücklich, welch hoher Bildungs- und Ausbildungsgrad in der Oberlausitz heimisch war. Die Beiträge des Zittauer Symposiums sollen bald in einem Tagungsband veröffentlicht werden.

Die Wahl des Tagungsthemas und ihre Organisation macht Hoffnung auf viele weitere Veranstaltungen durch das Präsidium.